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geschichte artikel (Interpretation und charakterisierung)

Einzelschicksale



An den Einzelschicksalen von Menschen, ihren konkreten Erzählungen und Erfahrungen, läßt sich wohl am eindrucksvollsten und treffendsten Schildern, wie die Demütigungen und Ängste in Deutschland auf die Betroffenen gewirkt hat, wie sie ihre Flucht wahrgenommen haben, das fremde Land in dem sie sich plötzlich wiederfanden, faktisch ohne Chance auf eine Heimkehr.
Wie haben sich diese Menschen eingelebt, die so aus ihren Wurzeln gerissen wurden, plötzlich ohne Heimat und in einem Land waren, das sie eigentlich gar nicht haben wollte ?
Drei Beispiele sollen dies verdeutlichen, zwei Frauen, die bereits in jungen Jahren nach Großbritannien kamen, jedoch eines ohne seine Eltern und ohne jede Verwandtschaft, die sie nie wiedersah. Und schließlich das Beispiel eines jüdischen Widerstandskämpfers, der über Umwege nach London kam, jedoch als einziger der drei nach Kriegsende wieder nach Deutschland zurückkehrte, um dort zu leben.


"Nur jetzt nach all den Jahren denke ich daran" - Claire Allen
(geb. Miriam Claire Plaut)

Miriam Claire Plaut wird 1923 in Berlin als Tochter von Paul und Thekla Plaut geboren. Ihr Vater ist Psychologe, Arzt und Gerichtsgutachter in Jugendstrafprozessen, in psychologischen Kreisen verhältnismäßig angesehen durch sein 1929 erschienenes Buch ,Die Psychologie der produktiven Persönlichkeit', für das er so angesehene, im Dritten Reich dann jedoch ebenfalls verfemte Personen wie Heinrich und Thomas Mann oder Max Pechstein befragt.
Als im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse hoch dekoriertem Frontkämpfer kann er sich nicht vorstellen, im mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten neu entstandenen ,Soldatenstaat' verfolgt zu werden. Er verleugnet, im Gegensatz zu seiner Frau Thekla, bis 1938 die, durch die immer drastischere Formen annehmende Judenhetze, wachsende Gefahr für sich und seine Familie.
Thekla engagiert sich schon seit einigen Jahren für den ,Kindertransport', eine Initiative, die jüdischen Kindern zur Ausreise aus Deutschland verhilft und sich um ihre Unterbringung in Familien kümmert. Bei ihren Sammlungen lernt sie einen wohlhabenden Juden kennen, der sie davon überzeugt, nach England auszuwandern. Sie gibt ein bereits erhaltenes Visum für die USA an ihren Bruder ab und bemüht sich fortan, zügig Englisch zu lernen.
Zwar sträubt sich Paul Plaut noch immer gegen eine Emigration, doch ist im Juni 1938 die Lage der Juden inzwischen fatal, die ,Reichskristallnacht' kündigt sich bereits an. Miriam mußte zu Jahresbeginn ihre Schule verlassen, die Drangsalierungen im Alltag sind kaum noch zu ertragen.
Thekla Plaut erkennt die lebensbedrohliche Situation sehr klar, und hat in der Zwischenzeit während einer Englandreise für ihren Mann durch beständiges Vorzeigen der Bücher und Arbeiten ihres Mannes für diesen eine neue Anstellung gefunden: er wird in London als Gerichtsgutachter die Aussagen jugendlicher Straftäter beurteilen. Nun endlich ist Paul Plaut bereit, Deutschland zu verlassen.
Die Flucht führt zunächst nach Amsterdam, wo die Plauts noch einige Wertsachen deponiert haben, die sie in hohlen Regalbrettern nach England schmuggeln. Miriam nimmt die Reise kaum als Flucht wahr, sie hat vielmehr das Gefühl eines normalen Umzuges, da die Eltern durch eine besonnene Planung und lange Vorbereitungen einen Großteil des Privatbesitzes mitnehmen können.
Sicher in England angekommen, bleibt der Familie kaum Zeit, sich gemeinsam einzugewöhnen. Miriam wird noch 1938 für vier Jahre von den Behörden in eine von Quäkern geführte Boarding-School, ein Internat also, geschickt, die außerhalb Londons liegt, so daß sie nur am Wochenende und in den Ferien ihre Eltern sieht. In der neuen Umgebung jedoch gibt es keine Möglichkeit, der neuen Sprache auszuweichen, Unterhaltungen auf Deutsch sind den Emigrantenkindern streng untersagt und Miriam hat ausschließlich englische Freunde gefunden.
Um an Deutschland zu denken, bleibt ihr kaum die Zeit: "Da war so viel zu lernen in den vier Jahren, wahrscheinlich muß man da viel arbeiten. Ich denke, ich habe nicht viel dran gedacht." Die Lebenszeichen von Freunden und Verwandten, welche die Flucht aus Deutschland nicht geschafft haben, werden auch immer seltener, bis sie nach und nach alle enden. "Als die Briefe dann plötzlich aufhörten, habe ich, glaube ich, gewußt, warum." Miriam vermutet, das sie jedoch zu dem Zeitpunkt der Schulalltag wesentlich mehr beschäftigt hat, als das ferne Deutschland.
Als sie 1942 ihren Schulabschluß erlangt hat, beginnt sie bis einen Diplomkurs an der kriegsbedingt von London nach Oxford ausgelagerten Kunstschule. Während dieser Zeit, und auch während der folgenden einjährigen Lehrerausbildung, die 1947 in eine berufliche Anstellung mündete, vermied sie es, ein Namensschild vor sich aufzustellen, da sie sich für ihren deutschen Namen schämte. Jedoch all ihren Bemühungen zum Trotz, nicht als Ausländerin erkannt zu werden, für die englischen Behörden bleibt sie es: während des gesamten Krieges unterliegt sie als sogenannter "enemy alien" starken Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit. So darf sie im Winter nur bis 21.30 Uhr im Freien aufhalten, im Sommer bis 22.30 Uhr, darf nicht einmal ein Fahrrad besitzen. Diese Ausgangs- und Bewegungsfreiheitseinschränkungen treffen Miriam besonders schwer.
Als sie Mitte zwanzig ist, trennt sie sich von ihrem langjährigen Freund, ebenfalls ein Jude, und geht völlig überhastet eine Ehe mit dessen englischem Freund ein, die jedoch nur 18 Monate hält. Im nachhinein glaubt Miriam, sie habe nur von zu Hause weggewollt nach dem Abschluß ihrer Ausbildung. Sie lebt anschließend beinahe zehn Jahre, bis zu ihrer Scheidung von ihrem ersten Mann, allein in London, wo sie sich ein Haus gemietet hat.
Im Gegensatz zu ihren Eltern, die bis zu ihrem Tode fast ausschließlich mit anderen Emigranten verkehren, hat Miriam in ihrem privaten Umfeld vorrangig Engländer.
Mit ihrem zweiten Mann, ebenfalls ein Nichtjude, bekommt sie 1964 eine Tochter, Rebecca, die nicht religiös-jüdisch erzogen wird. Miriam, die sich jetzt selber bei ihrem zweiten Namen Claire nennt, ist selber auch nicht religiös, geht nur einmal im Jahr mit ihren Eltern am Jom Kippur in die Synagoge. Für sie selber hat als einziger jüdischer Feiertag Jom Kippur eine Bedeutung, an diesem Tag fastet sie. Wie Claire selber sagt jedoch nicht aus eben einer religiösen Motivation, sondern "[...] zur Erinnerung an alles, was war". Mehr ist von ihrem Judentum einfach nicht geblieben, da, wo sie nun lebt, "gibt es so etwas nicht, und ich würde es auch nicht mehr verstehen."
Sie hat zu ihrer Vergangenheit ein, wie sie von sich sagt, recht kompliziertes Verhältnis, doch läßt sie sie nun im Alter zu, vielleicht gebe es, so räumt sie ein, im Alter dich so etwas wie die Sehnsucht nach den eigenen Wurzeln:
"Ich denke jetzt viel an die Vergangenheit, und werde versuchen, es alles für meine Tochter aufzuschreiben. [...] Bis jetzt haben mir meine eigenen Leute wohl nicht so gefehlt. Man hat so sehr versucht, alles zu vergessen und im Hintergrund zu lassen. Aber das ist wohl nicht natürlich, ziemlich spät kommt die Zeit, auszukramen. Erst jetzt, nach all den Jahren denke ich daran."
Claire sagt von sich, sie sei Wurzellos, doch das sei nicht weiter schlimm. Heute würden viele Menschen sowieso keine Wurzeln mehr haben wollen. Und, auf die Frage, wann sie begonnen hat, sich in England heimisch zu fühlen, antwortet sie lachend: "Immer noch nicht!"

(Zitiert nach: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Das Exil der kleinen Leute - Alltagserfahrung deutscher Juden in der
Emigration. München, 1991: Verlag C. H. Beck: "Nach all den Jahren denke ich daran" von Bernd Ulrich und Angelika Tramitz (188ff)





5.2. "Nur ein Photo von den Eltern - Mit dem jüdischen Kindertransport nach England" - Liesl Heilbronner

Liesl Heilbronner wird 1924 in Düsseldorf geboren und verlebt, wie sie von sich selbst sagt, eine Kindheit in einem sorgenfreien und liebevollen Elternhaus, war sportlich sehr aktiv. Mit der Machtergreifung ist es jedoch schlagartig mit der glücklichen Kindheit vorbei, sie wird gezwungen, eine Kölner Mädchenschule zu besuchen, verliert ihre gesamte vertraute Umgebung, ihre Freunde. Ungläubig steht sie nach der Reichskristallnacht vor den Trümmern der Wohnung ihrer Eltern, die bis dato schon mehrmals versucht haben, Deutschland zu verlassen, jedoch keine Visa erhalten haben. Im August 1939 treffen sie eine schwere Entscheidung, die ihrer Tochter das Leben rettet, und schicken sie mit den Kindertransporten nach Großbritannien.
Liesl kommt in ein Internat bei Hastings, das sie jedoch 1940 als "enemy alien" wieder verlassen muß. Eine Londoner Handelsschule nimmt sie auf, anschließend arbeitet sie als Stenotypistin und Halbtags in einem Krankenhaus.
1948 erhält sie die britische Staatsbürgerschaft und heiratet einen nichtjüdischen Hochschullehrer, mit dem sie zwei Kinder hat. Da sie in ihrer Kindheit schon in einem liberalen Klima aufgewachsen ist, findet sie auch in England nicht zum praktizierenden Judentum, sucht auch nicht die Gesellschaft anderer, insbesondere Exiljuden: "Ich finde es befremdend, mit Juden zusammen zu sein. Ich glaube an einen Gott, aber weiter würde ich nicht gehen, obwohl ich auch nie meinen ursprünglichen Glauben ändern würde."
Nach Deutschland ist sie nach dem Krieg nur einmal zurückgekehrt, um Wiedergutmachungsansprüche geltend zu machen und auf dem Friedhof ihrer Heimatstadt für ihre 1942 in Minsk von den Deutschen hingerichteten Eltern und Verwandten einen Gedenkstein zu errichten. Liesl fühlt sich ihren Eltern "für immer zu Dank verpflichtet für ihre Selbstlosigkeit, aber dieses Kapitel meines Lebens ist völlig abgeschlossen."

(Zitiert nach: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Das Exil der kleinen Leute - Alltagserfahrung deutscher Juden in der
Emigration. München, 1991: Verlag C. H. Beck: "Nur ein Photo von den Eltern" von Jenny Kreyssig (203ff)





5.3. "Meine Heimat ist - die deutsche Arbeiterbewegung" - Richard Löwenthal

Richard Löwenthal wird am 15. April 1908 in Berlin geboren. Sein Elternhaus war ein, wie er es bezeichnet, "sehr unjüdisches jüdisches Haus". Der Vater, ein Textilvertreter, war ungläubig, die Mutter hatte eine "ganz vage Allerweltsreligion, die nichts Spezifisches an sich hatte." In diesem Umfeld aufgewachsen, wußte auch Richard wenig vom Judentum, fühlte sich auch nicht in erster Linie als solcher und hatte nicht den Eindruck, in diesem Land fremd zu sein.
Richard Löwenthal war schon als Jugendlicher politisch aktiv, las Marx und war seit 1926 Mitglied der KPD, studierte bei Max Weber und Carl Jaspers Nationalökonomie. 1933 trat er in die illegale Widerstandsbewegung "Neu Beginnen" ein, aus politischer, nicht aus religiöser Motivation, deren Leitung er bald angehörte und deshalb schon früh ins Exil nach Prag gehen mußte, 1938 dann nach Paris und kurz vor Kriegsausbruch nach London: "Das war eine der ganz wenigen Gelegenheiten in meinem Leben, bei der ich von politischer Arbeit persönlich profitiert habe."
Löwenthal hat England sehr gemocht, war beeindruckt von einem Land, das "trotz konservativer Regierung eine im Kern [...] sehr gesunde Demokratie" war, und das in so widrigen Zeiten, in der man allein stand, fast ganz Europa von den Deutschen besetzt war: "[...] ungeheuer eindrucksvoll! Ich habe zum ersten mal gelernt, was es heißt, in einem liberalen, demokratischen Land zu leben, in dem bestimmte Dinge selbstverständlich sind." Jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, Löwenthal hat auch die Erfahrung gemacht, wie sich England unter dem Druck verändert hat. Hatten die Briten zu Beginn des Krieges nur alle feindliche Ausländer, die bereits zuvor erwähnten "enemy aliens", registriert und in drei Klassen eingeteilt - solche, gegen die nichts vorlag, solche, gegen die etwas negatives vorlag und schließlich solche, über die etwas Positives vorlag, Löwenthal gehörte zur letzten Gruppe, so änderte sich bereits 1940 die britische Politik auf drängen der Bürokratie des Innenministeriums die Fremdenpolitik. Innenminister Herbert Morrison faßte widerstrebend den Beschluß, alle "enemy aliens" internieren zu lassen. Löwenthal hierzu: "Aber es wurde à la Anglais durchgeführt: freundlich und schlampig!"
Die bei weitem überwiegend positiven Erfahrungen in seinem Zufluchtsland, in dem er ab 1942 als Journalist arbeitete, lassen Richard Löwenthal auch heute noch eine enge Bindung an Großbritannien verspüren, er hat die britische Staatsbürgerschaft, die er während seines Aufenthaltes angenommen hatte, nie aufgegeben, obwohl er inzwischen auch wieder einen deutschen Paß besitzt. 1948 kehrt er ins besiegte Deutschland zurück, wie er sagt, "ohne psychologische Schwierigkeiten": "Das was da passiert war, war für mich nicht das Handeln ,der Deutschen', weil ich aus dieser Zeit andere Deutsche als Freunde, als Nazi-Gegner kannte. Das ist eine ganz andere Situation als die der meisten jüdischen Emigranten."
Seit 1961 ist er wieder vollständig in Deutschland zu Hause, hat eine Professur für Politische Wissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin inne und fühlt sich dort "sehr stark zu Hause. Ich bin zwar Kosmopolit, aber nicht wurzellos. Meine Heimat ist die deutsche Arbeiterbewegung."

Zitiert nach: Funke, Hajo. Die andere Erinnerung - Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil. Frankfurt, 1989: Fischer Taschenbuch Verlag GmbH (402ff)

 
 

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