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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Märchenhaftes in "das märchen der 672. nacht"


1. Drama
2. Liebe




Die früheste der hier drei besprochenen Novellen ist das 1895 entstandene "Märchen der 672. Nacht", ein Märchen dessen Begebenheit so einfach und real ist, dessen tieferer Sinn sich jedoch umso eindrucksvoller enthüllt.

Der Held der Erzählung ist ein reicher Kaufmannssohn, der in seiner eigenen Welt lebt, die ihm "in allen Zügen als ein mit Zauber und Grauen überfüllter Traum erscheint" . Er ist namen- und damit identitätslos und ist unfähig zur Kommunikation. Der Kaufmannssohn geht jedem Kontakt mit anderen Menschen aus dem Weg, nur seine vier Diener sind bei ihm. Eine Bindung an Freunde oder eine Frau ist ihm unerträglich, sodass er sich immer mehr in ein einsames Leben hineinlebt, "welches anscheinend seiner Gemütsart am meisten entsprach" . Um seinem Leben Sinn zu geben, verwandelt der Narziss alles in ein "für sich" . Er fühlt sich im Besitz aller Dinge. Hinter der Schönheit, aus der er, ähnlich wie Oscar Wildes Dorian Gray, einen Kult treibt, hinter der Ergebenheit seiner Diener und dem fordernden Reiz seiner schönen Dienerinnen, spürt er jedoch ein Verhängnis. Denn durch das stetige Aufrechterhalten seiner Kunstwelt flüchtet der Kaufmannssohn vor der Wirklichkeit.

Zeigt der erste Teil der Erzählung ein behütetes Leben, so beschreibt der zweite ein böses, das immer neues Entsetzen bringt. Ein Brief ist die Ursache für die plötzliche Wendung. Ein Brief, der "durch die Beunruhigung, die seine Botschaft ist, [...] die Handlung auslöst" . Der Inhalt des Briefes, eine "in unklarer Weise" formulierte Beschuldigung, ist nicht so wichtig wie die Wirkung, die er hat. Der Kaufmannssohn muss nämlich seinen Garten verlassen, muss in das Labyrinth der Stadt, wird von einem Pferd getreten und muss schließlich sterben. Speziell im Überstürzen der Ereignisse zum Schluss der Erzählung zeigt sich die "Gestaltung des Subjektinneren des Kaufmannssohns" . Die Darstellung der Bewusstseinsvorgänge des Protagonisten zeige eine "verzerrte Wirklichkeit, weil es sich um traumhaft befangene Bewußtseinszustände handelt" . Der Tod in der Einsamkeit, bestohlen und alleingelassen, ist nun der hässliche Schlusspunkt seines Lebens und nicht der schöne, ästhetische Tod, der so gut in sein Reich der Schönheit gepasst hätte.



In dieser Erzählung herrschen zwei Kontrastrelationen vor, die aber nicht nebeneinander stehen, sondern didaktisch geschickt verhakt sind: Schönheit und Hässlichkeit, als auch Leben und Tod. Sowohl das Leben, als auch der Tod können schön oder hässlich sein. Die Korrespondenzrelation ist das wiederkehrende Motiv des hässlichen Gesichts. Immer wieder begegnen dem Protagonisten hässliche Gesichter, sei es das der kranken Dienerin oder das des kleinen Mädchens im Glashaus. Selbst das Pferd, das ihm den tödlichen Tritt versetzt, trägt einen "häßlichen Kopf" . Der Tod des Kaufmannssohnes ist also auf der motivischen Ebene sehr gut vorbereitet, aber vom psychologischen Standpunkt gesehen ist der Tod eher unmotiviert.



Warum also, so fragte sich die Hofmannsthal-Forschung immer wieder, muss der Kaufmannssohn sterben. Die ältere Hofmannsthal-Forschung bevorzugte die moralisierende Deutung. Der Tod wird hier als eine Strafe dafür angesehen, dass sich der ästhetische Mensch vor dem Leben geflohen ist. Die Opposition zwischen dem schönen Leben versus dem gesamten Leben, inklusive aller dunklen Seiten, wird angesprochen und das Leben gleichermaßen als personifizierte Schicksalsmacht dargestellt, die jegliche Verleugnung mit der Todesstrafe ahndet.



Andere Interpreten fühlten sich mehr zur phänomenologischen Deutung hingezogen. Es darf einfach keine Erklärung geben, warum der Kaufmannssohn sterben muss. Das Ende muss unerklärt bleiben. Gerade diese Rätselhaftigkeit des Todes bildet die Unerklärlichkeit der damaligen Zeit ab. Die rasante Entwicklung technischer Erfindungen brachte ein "Beschleunigungsphänomen", das sich auf Wahrnehmung, Kommunikation oder Fortbewegung auswirkte und viele Menschen verunsicherte. Im "Märchen der 672. Nacht" bricht das Irrationale, Unverständliche in die geordnete Welt ein. Die Unerkennbarkeit der modernen Welt soll dem Leser dadurch vor Augen geführt werden, indem er selber von der plötzlichen Wahrnehmung des unerklärlichen Todes beunruhigt und irritiert wird; so, wie der Kaufmannssohn in der Geschichte auch.



Der dritte traditionelle Deutungsansatz schließlich ist die psychoanalytische Deutung. Sigmund Freud befand sich zur Jahrhundertwende in seiner Hochblüte und viele seiner Theorien flossen in literarische Werke des Jungen Wien ein. Zentraler Punkt Freuds Forschung war der sogenannte "Ödipus-Komplex", der 1910 seinen Namen bekam. Demnach gehöre es zur normalen psychischen und menschlichen Entwicklung aller männlichen Kinder, den Vater tot zu wünschen um anstatt ihm den Platz bei der Mutter einnehmen zu können. Bei der psychoanalytischen Untersuchung literarischer Texte muss zwischen zwei Phasen unterschieden werden; zwischen den Texten, die ab 1910 erschienen sind, und in die das Vorwissen der Autoren über Psychoanalyse eingeflossen war und den vorfreudianischen Texten, die quasi hinter dem Rücken der Autoren psychoanalytisch untersucht werden, ohne deren Originalintention zu berücksichtigen. Das "Märchen der 672. Nacht" ist eindeutig vorfreudianisch, doch hat das zweite Kapitel einen Traumcharakter, in dem stimmungsvolle, rätselhafte Übergänge vorherrschen.

Erste psychoanalytische Interpretationen des "Märchens" folgen dem Grundmuster der ödipalen Lehre. So stelle der Huftritt des Pferdes eine symbolische Kastration dar. Das Pferd stehe für den strafenden Vater, vor dem der Sohn solche Angst hatte, und den er von der Seite der Mutter verdrängen wollte. Er muss also sterben wegen des Ödipus-Komplexes, die Rolle der Weiblichkeit wird jedoch nicht berücksichtigt. Neuere Interpretationen beziehen auch diesen Faktor mit ein, die Weiblichkeit wird als destruktiv dargestellt. In Hofmannsthals Text tritt sie in der Kette der bösen Gesichter als auch im literarischen Zitat der antiken Medusa, der älteren Dienerin, die der Kaufmannssohn in einem Spiegel erblickt, auf. So heißt es, sie trage "in jedem Arm eine schwere hagere indische Gottheit aus dunkler Bronze" . Die dunklen Köpfe aber hätten einen "bösen Mund von Schlangen, drei wilde[...] Augen in der Stirn und unheimliche[n] Schmuck in den kalten, harten Haaren" .

Die Weiblichkeit ist deshalb angstbesetzt, weil der Kaufmannssohn auf Grund der fehlenden Identifikation mit seinem Vater seine femininen Anteile nicht leben kann, diese verdrängt, aber ihre - beängstigende - Rückkehr nicht verhindern kann. Solche abgespaltenen Persönlichkeitsanteile stören die Idylle seines Daseins. Das Pferd, das dem Sohn den Todestritt versetzt, steht seit der Antike als Symbol für Weiblichkeit, die Krise des Subjekts ist perfekt.

 
 



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