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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

"die kleine reise" - der spaziergang - karl philipp moritz


1. Drama
2. Liebe

(aus Anton Reiser 1786) / Und nun eilte er gerade zum Tore hinaus - es war ein trüber neblichter Himmel - und ging auf ein kleines Wäldchen zu, das nicht weit von Hannover liegt. - Er fühlte ungewöhnliche Kraft in seiner Seele, sich über alles das hinwegzusetzen, was ihn darnieder drückte - denn wie klein war der Umfang, der alle das Gewirre umschloß, in welches seine Besorgnisse und Bekümmernisse verflochten waren, und vor ihm lag die große Welt.
Aber dann kehrte wieder das wehmütige Gefühl zurück: wo sollte er nun in dieser großen öden Welt festen Fuß fassen, da er sich aus allen Verhältnissen herausgedrängt sähe? - Da wo auf einem kleinen Fleck der Erde die menschlichen Schicksale zusammenlaufen, war es nichts, gar nichts! - (...)
Und wenn er nun so einsam dastand, so gab ihm der Gedanke, daß er dem Gedränge nun so ruhig zusehen konnte, ohne sich selbst hineinzumischen, schon einigen Ersatz für die Entbehrung desjenigen, was er nun nicht zu sehen bekam - allein fühlte er sich edler und ausgezeichneter als unter jenem Gewimmel verloren. - Sein Stolz, der sich emporarbeitete, siegte über den Verdruß, den er zuerst empfand - daß er an den Haufen sich nicht anschließen konnte, drängte ihn in sich selbst zurück und veredelte und erhob seine Gedanken und Empfindungen.
Dies war nun auch der Fall bei dem einsamen Spaziergange an dem trüben und regnigten Nachmittage, wo er den hämischen Blicken seiner versammelten Mitschüler und der gänzlichen Vernachlässigung und dem unerträglichen Nichtbemerktwerden, das ihm bevorstand, entfloh, indem er aus dem Tore von Hannover dem einsamen Walde zueilte.
Dieser einsame Spaziergang entwickelte auf einmal mehr Empfindungen in seiner Seele und trug mehr zur eigentlichen Bildung seines Geistes bei - als alle Schulstunden, die er je gehabt hatte, zusammengenommen.
Dieser einsame Spaziergang war es, welcher Reisers Selbstgefühl erhöhte, seinen Gesichtskreis erweiterte und ihm eine anschauliche Vorstellung von seinem eignen wahren, isolierten Dasein gab; das bei ihm auf eine Zeitlang an keine Verhältnisse mehr geknüpft war, sondern in sich und für sich selbst bestand.
Indem er einen Blick auf das Ganze des menschlichen Lebens warf, lernte er zuerst das Große im Leben von dessen Detail unterscheiden.
Alles, was ihn gekränkt hatte, schien ihm klein, unbedeutend und nicht der Mühe des Nachdenkens wert.
Aber nun stiegen andre Zweifel, andre Besorgnisse in seiner Seele auf - die er schon lange bei sich genährt hatte - über den in undurchdringliches Dunkel gehüllten Ursprung und Zweck, Anfang und Ende seines Daseins über das Woher und Wohin bei seiner Pilgrimschaft durchs Leben - die ihm so schwer gemacht wurde, ohne daß er wußte, warum? - Und was nun endlich aus dem allen kommen sollte.
Dies erregte in ihm tiefe Melancholie. So wie er mühsam über die dürre I leide vor dem Walde im gelben Sande fort wanderte, umzog sich der Himmel immer trüber, indes ein feiner Staubregen seine Kleider durchnetzte als er in den Wald kam, schnitt er sich einen Dornstock und wanderte weiter fort - da kam er an ein Dorf und machte sich eben allerlei süße Vorstellungen von dem stillen Frieden, der in diesen ländlichen Hütten herrschte, als er sich in einem der Häuser ein paar Leute, die wahrscheinlich Mann und Frau waren, zanken und ein Kind schreien hörte.
Also ist überall Unmut und Mißvergnügen und Unzufriedenheit, wo Menschen sind, dachte er und setzte seinen Stab weiter fort. - Die einsamste Wüste wurde ihm wünschenswert - und da ihn endlich auch in dieser die tödliche Langeweile quälte, so blieb das Grab sein letzter Wunsch - und weil er nun nicht einsah, warum er sich die Jahre seines Lebens hindurch in der Welt von allen Seiten hatte müssen drücken, stoßen und wegdrängen lassen, so zweifelte er endlich an einer vernünftigen Ursach seines Daseins - sein Dasein schien ihm ein Werk des schrecklichen blinden Ohngefährs.
Es wurde früher wie gewöhnlich Abend, weil der Himmel trübe war und es stärker anfing zu regnen - und da er zu Hause wieder anlangte, war es schon völlig dunkel - er setzte sich bei seiner Lampe nieder und schrieb an Philipp Reisern:
Vom Regen durchnetzt und von Kälte erstarrt kehr ich nun zu dir zurück, und wo nicht zu dir - zum Tode - denn seit diesem Nachmittage ist mir die Last des Lebens, wovon ich keinen Zwecke sehe, unerträglich. - Deine Freundschaft ist die Stütze, an der ich mich noch festhalte, wenn ich nicht unaufhaltsam in dem überwiegenden Wunsche der Vernichtung meines Wesens versinken will.
Und nun erwachte auf einmal wieder der Gedanke, sich den Beifall seines Freundes durch den Ausdruck seiner Empfindungen zu erwerben. - Dies war gleichsam die neue Stütze, woran sich seine Lebenslust wieder festhielt
Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 39

- und da den Nachmittag alle seine Empfindungen so äußerst stark und lebhaft gewesen waren, so wurde es ihm nicht schwer, sie wieder zurückzurufen. -



Er hub also an:

Dir, Freund, will ich mein Leiden klagen,
O könnten dir es Worte sagen:

Ich weiß, du fühltest meinen Schmerz -
Mich kränkt nicht hoffnungslose Liebe,

Nicht kränkten unerfüllte Triebe
Nach Ehr und Gold mein Herz. -

(...)

Mein Pfad geht über dürre Heide,

Hier flieht mich höhnend jede Freude
Und läßt nur Ekel mir zurück.

Ich wandre - doch wohin ich reise?
Woher? - das sage mir der Weise,

Der mehr als ich mich selber kennt -
Mein Dasein - das Sich kaum entschwinget

Dem Augenblick, der es verschlinget,
Und bang nach seinem Ziele rennt;

Wem soll ich dieses Dasein danken?
Wer setzt ihm diese engen Sehranken?

Aus welchem Chaos stiegs empor?
In weiche greuelvolle Nächte
Sinkts - wenn des Schicksals ehrne Rechte
Mir winket zu des Todes Tor? -

Dies Gedicht floß gleichsam aus seiner Seele. - Selbst der Reim und das Versmaß machte ihm nur wenige Schwierigkeit, und er schrieb es in weniger als einer Stunde nieder. - Nachher fing er bald an, Gedichte zu machen, bloß um Gedichte zu machen, und dies gelang ihm nie so gut. -
Aber der Frühling und Sommer des Jahres 1775 verfloß ihm nun ganz poetisch. - Die angenehmen Shakespearenächte, Welche er im Winter mit Philipp Reisern zugebracht hatte, wurden nun durch noch angenehmere Morgenspaziergänge verdrängt. -

Nicht weit von Hannover, wo der Fluß einen künstlichen Wasserfall bildet, ist ein kleines Gehölz, welches man nicht leicht irgendwo angenehmer und einladender finden kann. -
Hierher wurden Wallfahrten noch vor Sonnenaufgang angestellt - die beiden Wanderer nahmen sich ihr Frühstück mit, und wenn sie nun im Walde angelangt waren, so beraubten sie eine Menge Baumstämme ihres Mooses und bereiteten sich einen weichen Sitz, worauf sie sich lagerten und, wenn sie ihr Frühstück verzehrt hatten, sich einander wechselsweise vorlasen. - Hierzu wurden besonders (Ewald von, Anm. d. Hrsg.) Kleists Gedichte ausgewählt, die sie bei dieser Gelegenheit beinahe auswendig lernten.
Wenn sie dann am andern Tage wieder hinkamen, so suchten sie im ganzen Wäldchen erst ihren gestrigen Platz wieder und fanden sich nun hier wie zu Lause in der großen freien Natur, welches ihnen eine ganz besondere herzerhebende Empfindung war. - Alles in diesem großen Umkreise um sie her gehörte ihren Augen, ihren Ohren und ihrem Gefühl - das junge Grün der Bäume, der Gesang der Vögel und der kühle Morgenduft.
Wenn sie dann wieder heimkehrten, so ging Philipp Reiser in seine Werkstatt und machte Klaviere, indes Anton Reiser die Schule besuchte, wo nun größtenteils schon eine ganz andere Generation seiner Mitschüler war, so daß er auch hier mit leichterm Herzen hingehen konnte. -
In manchen Stunden suchte dann Anton Reiser auch seine geliebte Einsamkeit wieder, ob er nun gleich einen Freund hatte - und wenn irgendein schöner Nachmittag war, so hatte er sich auf einer Wiese vor Hannover längst dem Flusse ein Plätzchen ausgesucht, wo ein kleiner klarer Bach über Kiesel rollte, der sich zuletzt in den vorbeigehenden Fluß ergoß. - Dies Plätzchen war ihm nun, weil er es immer wieder besuchte, auch
Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 40

gleichsam eine Heimat in der großen ihn umgebenden Natur geworden; und er fühlte sich auch wie zu Hause, wenn er hier saß, und war doch durch keine Wände und Mauern eingeschränkt, sondern hatte den freien ungehemmten Genuß von allem, was ihn umgab. - Dies Platzehen besuchte er nie, ohne seinen Horaz oder Virgil in der Tasche zu haben. - Hier las er Blandusiens Quell, und wie die eilende Flut

Obliquo laborat trepidare rivo.
Von hier sahe er die Sonne untergehen und betrachtete die sich verlängernden Schatten der Bäume. - An diesem Bache verträumte er manche glückliche Stunde seines Lebens. - Und hier besuchte ihn zuweilen auch die Muse, oder vielmehr, er suchte sie. - Denn er bemühte sich jetzt, ein großes Gedicht zustande zu bringen, und weil er diesmal bloß dichten wollte, um zu dichten, so gelang es ihm nicht wie vorher; der Wunsch, ein Gedicht zu machen, war diesmal eher bei ihm da als der Gegenstand, den er besingen wollte, woraus gemeiniglich nicht viel Gutes zu folgen pflegt. - (...)

Dieser Sommer war also für Anton Reiser ein recht poetischer Sommer. - Seine Lektüre mit dem Eindruck, den die schöne Natur damals auf ihn machte, zusammengenommen, tat eine wunderbare Wirkung auf seine Seele; alles erschien ihm in einem romantischen bezaubernden Lichte, wohin er seinen Fuß trat.
Aber ohngeachtet seines genauen Umganges mit Reisern liebte er dennoch vorzüglich die einsamen Spaziergänge. - Nun war vor dem neuen Tore in Hannover der Gang auf der Wiese längst dem Flusse nach dem Wasserfall zu besonders einladend für seine romantischen Ideen.
Die feierliche Stille, welche in der Mittagsstunde auf dieser Wiese herrschte; die einzelnen hie und da zerstreuten hohen Eichbäume, welche mitten im Sonnenschein, so wie sie einsam standen, ihren Schatten auf das Grüne der Wiese hinwarfen - ein kleines Gebüsch, in welchem man versteckt das Rauschen des Wasserfalls in der Nähe hörte - am jenseitigen Ufer des Flusses der angenehme Wald, in weichem er mit Reisern des Morgens in der Frühe spazieren gegangen war - in der Ferne weidende Herden; und die Stadt mit ihren vier Türmen und dem umgebenden, mit Bäumen bepflanzten Walle, wie ein Bild in einem optischen Kasten. - Dies zusammengenommen versetzte ihn allemal in jene wunderbare Empfindung, die man hat, sooft es einem lebhaft wird, daß man in diesem Augenblicke nun gerade an diesem Orte und an keinem andern ist, daß dies nun unsere wirkliche Welt ist, an die wir so oft als an eine bloß idealische Sache denken. - (...)

Zu diesem allen kam nun noch, daß gerade in diesem Jahr die Leiden des jungen Werthers erschienen waren, welche nun zum Teil in alle seine damaligen Ideen und Empfindungen von Einsamkeit, Naturgenuß, patriarchalischer Lebensart, daß das Leben ein Traum sei usw., eingriffen.
Er bekam sie im Anfang des Sommers durch Philipp Reisern in die Hände, und von der Zeit an blieben sie seine beständige Lektüre und kamen nicht aus seiner Tasche. - Alle die Empfindungen, die er an dem trüben Nachmittage auf seinem einsamen Spaziergange gehabt hatte, und welche das Gedicht an Philipp Reisern veranlaßten, wurden dadurch Wieder lebhaft in seiner Seele. - Er fand hier seine Idee vom Nahen und Fernen wieder, die er in seinem Aufsatz über die Liebe zum Romanhaften bringen wollte - seine Betrachtungen über Leben und Dasein fand er hier fortgesetzt - ,Wer kann sagen, das ist, da alles mit Wetterschnelle vorbeiflieht?< - Das war eben der Gedanke, der ihm Schon so lange seine eigne Existenz wie Täuschung, Traum und Blendwerk vorgemalt hatte. - (...)

Fast alle Tage ging er nun bei heiterm Wetter mit seinem Werther in der Tasche den Spaziergang auf der Wiese längst dem Flusse, w o die einzelnen Bäume standen, nach dem kleinen Gebüsch hin, wo er sich wie zu Hause fand und sich unter ein grünendes Gesträuch setzte, das über ihm eine Art von Laube bildete - weil er nun denselben Platz immer Wieder besuchte, so wurde er ihm fast so lieb wie das Platzehen am Bache - und er lebte auf die Weise bei heiterm Wetter mehr in der offenen Natur als zu Hause, indem er zuweilen fast den ganzen Tag so zubrachte, daß er unter dem grünen Gesträuch den Werther und nachher am Bache den Virgil oder Horaz las. (...)

Seine Spaziergänge wurden ihm nun immer interessanter; er ging mit Ideen, die er aus der Lektüre gesammelt hatte, hinaus und kehrte mit neuen Ideen, die er aus Betrachtungen der Natur geschöpft hatte, wieder herein. - Auch machte er wieder einige Versuche in der Dichtkunst, die sich aber immer um allgemeine Begriffe herumdrehten und sich wieder zu seiner Spekulation hinneigten, die doch immer seine Lieblingsbeschäftigung war. So ging er einmal auf der Wiese, wo die hin und her zerstreuten Bäume standen, und seine Ideen stiegen auf eine Art von Stufenleiter bis zu dem Begriff des Unendlichen empor. - Dadurch verwandelte sich seine

Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 41

Spekulation in eine Art von poetischer Begeisterung, wozu sieh denn die Begierde, den Beifall seines Freundes zu erhalten, gesellte. - (...)

 
 

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