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philosophie artikel (Interpretation und charakterisierung)

Bedeutungsanalyse



Welche Probleme der kindlichen Entwicklung greift Schneewittchen auf?

Auch Schneewittchen ist wie alle Märchen in der Sprache der Kinder  der Phantasie  verfaßt. Will man nun erkennen welche kindlichen Probleme ein Märchen anspricht, so muß man die von Märchen verwendeten Bilder näher durchleuchten. Da die Bilder der Märchen häufig denen ähneln, die in Träumen vorkommen und da Märchen und Träume sich sehr ähneln, kommt man zu ähnlichen Methoden wie die Traumdeutung. Man muß wie beim Vorgang der Traumdeutung versuchen, die verwendeten Symbole zu entschlüsseln. Dies kann jedoch nie eindeutig geschehen und mag bei unterschiedlichen "Übersetzern" unterschiedlich ausfallen. Zudem hat das Märchen für unterschiedliche Kinder in verschiedenen Entwicklungsstadien ganz unterschiedliche Bedeutungen. Wie unterschiedlich die Interpretationsergebnisse des Märchens Schneewittchen sein können wird besonders deutlich, wenn man den Aufsatz "Schneewittchen - Versuch einer psychoanalytischen Deutung" von J.F. Grant Duff mit der Interpretation von Bruno Bettelheim vergleicht. Grant Duff geht ähnlich wie bei einer Traumdeutung vor, indem er das Märchen auf bekannte Symbole untersucht und diese dann entschlüsselt. Beinahe jedesmal stößt er dabei auf einen verborgenen sexuellen Hintergrund. Häufig erscheinen die Ergebnisse allerdings sehr fraglich, wenn man sich vor Augen hält, daß Märchen doch hauptsächlich für Kinder gedacht sind. Grant Duff geht so vor, als hätte ein Patient ihm das Märchen als Traum geschildert. Er analysiert diesen Traum wie er es aus seiner täglichen Praxis gewohnt ist. Bettelheim beschreitet einen anderen Weg. Er hat die Entwicklungsphasen des Kindes vor Augen. Vor diesem Hintergrund versucht er zu erkennen, welche Bedeutung Märchen für Kinder haben können. Die folgende Interpretation lehnt sich deshalb an die von Bruno Bettelheim vorgenommene an, da sie am plausibelsten erscheint und die Bedürfnisse der Kinder in ihren Entwicklungsphasen am meisten berücksichtigt. Seine Interpretation verfolgt die diesem Referat vorausgehende Fragestellung  "Brauchen Kinder Märchen?".

Bettelheim faßt Schneewittchen als Umsetzung einer prototypischen Kindheitsentwicklung in Märchenform auf. Im Vordergrund steht ein ödipaler Konflikt zwischen einem Kind und seinen Eltern. Ein Kind liebt seine Eltern über alles und erwartet dieses auch von seinen Eltern. Insbesondere erwartet dies auch eine Tochter von ihrem Vater. Sie möchte von ihm mehr geliebt werden als die Mutter. Zudem ist die Tochter eifersüchtig auf die enge Beziehung seiner Eltern. Um mit dieser Eifersucht fertig zu werden, benutzt das Mädchen das Mittel der Projektion. Es projiziert seine eigene Eifersucht auf die Mutter. Somit wandelt es das eigene Unterlegenheitsgefühl gegenüber den Eltern in ein Überlegenheitsgefühl um. Wird diese Empfindung der mütterlichen Eifersucht für die Tochter zum bestimmenden Element der Beziehung zu ihren Eltern, so wird das familiäre Zusammenleben für sie zur Qual. Es entsteht im Kind der Wunsch den betreffenden Elternteil loszuwerden. Dieser Wunsch löst jedoch schwere Schuldgefühle aus, und so muß auch hier wieder das Mittel der Projektion Abhilfe schaffen. Die Tochter nimmt an, die Mutter wolle sie verstoßen. Diese beiden Projektionen werden vom Märchen Schneewittchen aufgegriffen.
Die Stiefmutter ist so eifersüchtig auf Schneewittchen, daß sie sie umbringen (also loswerden) lassen will. Genauso so nimmt eine Tochter während eines ödipalen Konfliktes die Beziehung zu ihrer Mutter wahr.

Welchen Ausweg aus diesem Konflikt zeigt das Märchen dem Kind auf? Welche Symbole verwendet es um dies zu verdeutlichen?
Wie so viele Märchen beginnt Schneewittchen mit der Redewendung "Es war einmal...". Dies deutet an, daß das Märchen zeitlos seine Bedeutung hat. Für ein mit Märchen vertrautes Kind ist außerdem sofort klar, daß es jetzt ins Reich der Märchen und der Phantasie eintritt. Über die vorödipale Kindheitsentwicklung erfährt man im Märchen nicht viel. Der König und die Königin wünschen sich ein Kind weiß wie Schnee, Schwarz wie Ebenholz und so rot wie Blut. Die Eltern wünschen sich also ein unschuldiges, schönes und lebendiges Kind. Bei der Geburt stirbt dann aber die Königin und der Vater nimmt sich nach einem Jahr eine neue Frau  die Stiefmutter. Diese Unterscheidung von Mutter und Stiefmutter ist ein von Kindern häufig benutztes Mittel, um Konflikte mit der Mutter verarbeiten zu können. Das kleine Kind ist völlig auf den Schutz und die Vorsorge der Eltern angewiesen. Das Gefühl, die Mutter oder der Vater könnte eifersüchtig oder wütend auf es sein oder es gar loswerden wollen, erhält so eine existentielle Bedrohung für das Kind. Dieser Bedrohung begegnet das Kind mit einer Aufspaltung der z.B. mütterlichen Person in eine gute Mutter und eine böse Stiefmutter. So kann es die wahrgenommene Wut und seine eigenen negativen Gefühle mit der Stiefmutter assoziieren ohne das positive Bild der Mutter zerstören zu müssen. Das Märchen Schneewittchen nimmt diese kindliche Vorstellung auf und setzt eine Stiefmutter an die Stelle der Königin. Geschildert wird diese neue Stiefmutter als narzißtische Persönlichkeit. Verdeutlicht wird dies durch den Zauberspiegel. Die Stiefmutter läßt sich von ihm immer wieder ihre eigene Schönheit bestätigen. Für wen die Stimme des Zauberspiegels steht läßt sich unterschiedlich interpretieren. Bettelheim sieht besonders in der späteren Übertreibung "... tausendmal schöner..." die Stimme der Tochter. Man kann sie aber auch als Stimme des Vaters deuten. Auf jeden Fall wird dem Kind, welches das Märchen hört, vor Augen geführt, wie gefährlich übersteigerter Narzißmus sein kann, wenn er wie bei der Stiefmutter die Persönlichkeit völlig dominiert. Er verursacht den Konflikt zwischen Schneewittchen und der Stiefmutter und führt später beinahe zur Vernichtung von Schneewittchen. Zum Problem wird der Zauberspiegel erst als er der Stiefmutter sagt, Schneewittchen sei schöner als sie. Die Stiefmutter ist nicht fähig, ihr Bild von sich zu korrigieren und hegt daher den Wunsch Schneewittchen zu beseitigen. Sie beauftragt einen Jäger, Schneewittchen zu töten und ihr als Beweis Leber und Herz der Getöteten mitzubringen. Der Jäger nimmt hier stellvertretend die Rolle des Vaters im ödipalen Konflikt ein. Er handelt so, wie es sich eine Tochter in einer ödipalen Konfliktsituation von ihrem Vater wünscht. Er folgt scheinbar den Wünschen der (Stief-)Mutter. Als er jedoch die Chance zur freien Entscheidung hat, entscheidet er sich für Schneewittchen und läßt es frei. Der Jäger wird als Symbol gewählt, da er die Rolle des Vaters als Beschützers versinnbildlicht. Er tötet wilde Tiere, die im Unterbewußten stellvertretend für alles Gefährliche stehen.
Warum ist die (Stief-)Mutter so offen feindselig, während sich der König (Vater) so passiv verhält? Dies hängt mit der ursprünglichen Rollenverteilung der Eltern in der Familie zusammen. Der Vater hat für den Schutz des Kindes zu sorgen. Die Mutter kümmert sich um das leibliche Wohl der Tochter. Vernachlässigt die Mutter ihre Pflicht, so ist das Leben der Tochter direkt bedroht. Vernachlässigt hingegen der Vater seine Pflicht, so ist die Tochter nicht direkt bedroht jedoch schutzlos. Genau diese Situation tritt ein, als der Jäger Schneewittchen im Wald alleine läßt. Nachdem sich Schneewittchen gegen die Gefahren des Waldes behauptet hat, gelangt sie zur Hütte der sieben Zwerge. Die Zwerge sind in ihrer Entwicklung stehen geblieben Personen. Diese "Männlein" führen eine vorödipale Existenz. Hier verwirklicht sich der oben angesprochene Wunsch des Kindes aus der ödipalen Konfliktsituation zu fliehen. Das Märchen zeigt dem Kind jedoch, daß diese Flucht auf Dauer keine Lösung ist. Diese Flucht bedeutet Regression, die nicht möglich ist. Die Flucht in die vorödipale Kindheit (d.h. zu den Zwergen) geht auch nicht gut. Die Zwerge können Schneewittchen nicht vor der Stiefmutter beschützen. Schneewittchens Entwicklung läßt sich nicht aufhalten. Als die Königin vom Leben der Prinzessin bei den Zwergen erfährt, beschließt sie diese selbst zu töten. Sie macht sich dazu den erwachten Narzißmus der Rivalin zu nutze. Dem Zuhörer wird hier zum zweiten Mal aufgezeigt welch negative Folgen Narzißmus haben kann. Der Stiefmutter fällt es leicht, sich die erwachenden sexuellen Wünsche Schneewittchens zu nutze zu machen. Sie nutzt den Wunsch des Mädchens nach sexueller Attraktivität aus, indem sie sie mit einem Mieder und einem Kamm (die diesen Wunsch symbolisieren) beinahe umbringt. Zweimal gelingt es den Zwergen jedoch, sie in die vorödipale Latenzphase zurück zu holen. Schneewittchens Entwicklung stoppen können sie wie gesagt jedoch nicht und so führt der dritte Versuch der Stiefmutter ans Ziel. Durch einen Biß in den Apfel, der Symbol für Sexualität ist, wird Schneewittchen vergiftet. Die Zwerge können sie jetzt nicht mehr in die vorödipale Zeit zurück holen. Sie legen sie in einen gläsernen Sarg. Diese Ruhe im Sarg ist ein in vielen Märchen vorkommendes Motiv. Sie zeigt den Zuhörern, daß eine Ruhephase nötig ist, um die nötige Reife zu erlangen, um in das Erwachsenenalter eintreten zu können. Erlöst wird Schneewittchen aus dieser Ruhephase vom Prinzen  einem Mann. Dies ist die Hoffnung, die das Märchen einem Kind an die Hand gibt, welches mit ähnlichen Problemen ringt wie Schneewittchen. Am Ende des Märchens muß die Stiefmutter sterben. Sie wird für ihre mangelnde Bereitschaft zur Veränderung bestraft. Sie rückt nicht von ihrem Narzißmus ab und kann nicht einsehen nicht mehr die Schönste zu sein. Somit muß sie sterben.

Schneewittchen kann also auf sehr unterschiedliche Weise dem Kind in seiner Entwicklung helfen. Als erstes gibt es ihm ein Mittel an die Hand mit seinen eigenen ödipalen Gefühlen umzugehen. Es gibt ihm Bilder für seine schon unbewußt vorhandenen Ängste und Gefühle. Es erleichtert ihm so mit diesen umzugehen. Es macht ihm Mut, da es ihm bei richtigem Verhalten die Rettung durch einen "Prinzen" in Aussicht stellt. Das Märchen gibt ihm praktisch eine Anleitung durch die Wirren des Heranwachsens zu gelangen. Es möchte dem Kind vermitteln, daß es vor allem Ruhe und Geduld sind, die es ans Ziel  ein erfülltes Leben  gelangen lassen. Es weist außerdem auf die Gefahren hin die auf dem Weg dahin drohen. Es zeigt, daß es negative Folgen hat, dem Narzißmus und zu früh den sexuellen Wünschen nachzugeben. Aber es signalisiert gleichzeitig auch, daß dies keine irreparablen Schäden hinterläßt. Es ermahnt das Kind und jagt ihm vorläufig Angst ein. Es läßt es dann jedoch am Ende nicht im Zustand der Angst zurück.
Das Märchen vermittelt dem Kind moralische Vorstellungen der Gesellschaft. Die Frage die sich deshalb stellt ist, ob diese moralischen Vorstellungen noch der heutigen Zeit entsprechen. Die Beantwortung dieser Frage kann jedoch sehr unterschiedlich ausfallen. Deshalb sollten sich Eltern darüber im klaren sein, daß Märchen auch immer diese moralische Dimension enthalten. Sie sollten dann entscheiden, ob sie dem Kind diese Vorstellungen vermitteln wollen.

 
 

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