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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Aus kindlers neues literaturlexikon


1. Drama
2. Liebe

Roman von Jakob Wassermann, erschienen 1928. - Im Jahre 1924 wurde der Rechtsanwalt Karl Hau, der 1906 in einem aufsehenerregenden Indizienprozeß wegen Mordes zum Tode verurteilt und zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt worden war, nach achtzehnjähriger Haft entlassen. Bald danach beging er Selbstmord. Seine Schuld, die er stets geleugnet hatte, blieb umstritten. Diese Ereignisse wurden zum unmittelbaren äußeren Anlaß für die Entstehung von Wassermanns erfolgreichstem Roman, dem Fall Maurizius. Zusammen mit den beiden späteren Werken Etzel Andergast (1930) und Joseph Kerkhovens dritte Existenz (1934) bildet er einen dreiteiligen Zyklus, dessen innerer Zusammenhang durch die Lebensgeschichte Etzel Andergasts, einer Hauptfigur auch des ersten Romans, gegeben ist.

     Im Fall Maurizius erzählt Wassermann, wie Etzel, der sechzehnjährige Sohn des Oberstaatsanwalts Freiherr von Andergast, besessen von unerbittlichem Gerechtigkeitswillen, die Unschuld des seit achtzehn Jahren wegen Mordes im Zuchthaus sitzenden Leonhart Maurizius beweisen will, indem er den Kronzeugen des Prozesses, Gregor Waremme, in Berlin aufspürt, um ihn zum Geständnis eines Meineids zu bewegen. Maurizius, Privatdozent für Kunstgeschichte, war in einem Sensationsprozeß für schuldig befunden worden, wegen einer ehebrecherischen Beziehung zu seiner Schwägerin Anna Jahn seine um fünfzehn Jahre ältere Frau Elli erschossen zu haben. Waremme, intimer Freund des Angeklagten wie Anna Jahns, hatte behauptet, Augenzeuge des Mordes gewesen zu sein. Etzels Vater hatte in dem Prozeß die Anklage vertreten und mit diesem Fall seine Karriere begründet - das Urteil war hauptsächlich aufgrund seiner überlegenen Beweisführung ergangen. - Der selbstsichere, despotische Andergast läßt nach gescheiterter Ehe - er hat neun Jahre zuvor den Liebhaber seiner Frau zum Meineid gezwungen und dadurch in den Selbstmord getrieben - seinen Sohn, dem jeder Kontakt mit der Mutter verwehrt wird, in der lieblosen Atmosphäre eines minuziös geregelten, jede Spontaneität ausschließenden Familienlebens aufwachsen. Andergast ist von der heimlichen Abreise Etzels nach Berlin und der brieflichen Ankündigung seines Plans zutiefst irritiert; er muß erkennen, daß ihm in seinem Sohn ein selbständiger, verschlossener und willensstarker Gegner erwachsen ist.

     Nun, da der Vater um Etzels Absicht weiß, beginnt auch er, zunächst fast widerwillig, sich mit dem vergessenen Verfahren zu beschäftigen. Während er abermals die alten Prozeßakten studiert, kommen ihm unversehens Zweifel an der Rechtmäßigkeit des damaligen Urteils. Schließlich besucht er den Strafgefangenen Maurizius im Zuchthaus. Mehrere ausführliche Gespräche mit ihm bringen allmählich das ganze Gebäude der Anklage ins Wanken. In den Erzählungen des Häftlings treten nach und nach jene bis zur Undurchschaubarkeit verflochtenen Beziehungen der Prozeßbeteiligten an den Tag, ein Chaos von Konvention, Leidenschaft, Verlogenheit und Promiskuität. Andergast erkennt, daß die Grundlagen allen juristischen Urteilens, Kategorien wie Verantwortung, Gerechtigkeit, Schuld und Bestrafung, die auch die Basis seiner eigenen Existenz sind, in diesem Labyrinth ihre Geltung einbüßen, daß die Grenze zwischen Recht und Unrecht verwischt, ja ganz aufgehoben zu werden droht.

     Im Verlauf seiner Nachforschungen immer unsicherer geworden, sieht er sich innerlich dazu gezwungen, eine Begnadigung zu befürworten; von einer Revision des Urteils allerdings kann nach seiner Überzeugung nicht die Rede sein. Maurizius wird in der Tat auf dem Gnadenwege aus dem Zuchthaus entlassen. Fast gleichzeitig kehrt Etzel, den Beweis für dessen Unschuld in Händen, nach Haus zurück. Waremme hat ihm den Meineid gestanden: Nicht Maurizius, sondern Anna Jahn hat den Mord begangen. Etzel fordert nun von seinem Vater die Wiederaufnahme des Prozesses. Andergast weigert sich.

     Im Verlauf einer dramatischen Auseinandersetzung sagt sich Etzel von seinem Vater los. Andergast, durch die Vorgänge um den Fall Maurizius, die Konfrontation mit dem Leben und der Schuld eines anderen, die ihn das eigene Leben und die eigene Schuld erkennen lassen, schon zutiefst erschüttert, bricht nun vollständig zusammen. - Dem begnadigten Maurizius gelingt es nicht, eine erträgliche Beziehung zur Umwelt herzustellen. Er begeht kurz nach seiner Entlassung Selbstmord. Etzel kehrt nach dem Zusammenbruch des Vaters zu seiner Mutter zurück. Wassermann hat diesen äußeren Handlungsverlauf benutzt, um, wie er sagt, »viel Größeres« darzustellen: »Es ist die Idee der Gerechtigkeit, die den Herzpunkt im >Fall Maurizius< bildet.

    « Indem der Autor jenen weit zurückliegenden Prozeß aus der Erinnerung der Hauptbeteiligten wiedererstehen läßt, wird sichtbar, wie das Leben beider - des Angeklagten und seines Anklägers - unter dem Einfluß der damaligen verhängnisvollen Ereignisse steht und schließlich daran scheitern muß. Während der unschuldig-schuldige Maurizius im Zuchthaus der unaufhaltsamen Zerstörung seiner Persönlichkeit ausgeliefert ist, vollzieht sich in der Existenz des Staatsanwalts ein Prozeß innerer Depravation, so daß es nur noch eines Anstoßes bedarf, um diese scheinbar so sehr in der Sicherheit einer moralischen Wertordnung ruhende Persönlichkeit in sich zusammenstürzen zu lassen. Der fanatische Wille zur Gerechtigkeit, den Etzel verkörpert, muß vor der unseligen Verquickung menschlicher Leidenschaft und Schuld versagen - einer Konstellation, die in der vieldeutig schillernden Gestalt des meineidigen Zeugen Waremme am deutlichsten wird. Dieser polnische Jude, dessen eigentlicher Name Georg Warschauer ist, wandert, seine Herkunft verleugnend, wie ein moderner Ahasver ruhelos von Europa nach Amerika, bis ihn der Osten, aus dem er gekommen ist, wieder aufnimmt. Gleichzeitig werden an dieser Gestalt die unzähligen Verzweigungen und Verästelungen deutlich, in die sich der einfache juristische Tatbestand des Falls Maurizius, je tiefer man in ihn eindringt, immer mehr auflöst und verliert. Waremmes thematisch und formal zerfließende Monologe, die auf weite Strecken den äußeren Gegenstand des Romans verdecken, sind symptomatisch für das ganze Buch, von dem Wassermann sagt, er habe es »bisweilen mit einem in die Erde gebauten Trichter verglichen, dessen schmalste Öffnung oben, dessen weiteste unten liegt«: Je weiter sich der Roman von der eigentlichen Geschichte des Justizfalles Maurizius entfernt, um so mehr verliert er an Konzentration, und die zu Anfang überraschende Stringenz von Gedanke und Sprache verschwindet immer mehr in den Wucherungen einer ungehemmten erzählerischen Phantasie.

    

 
 

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