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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Vortrag mit musikbeispielen: neugierig werden auf musik von schönberg


1. Drama
2. Liebe



A) Einstimmung r / 1. Verankerung im traditionellen Tonsatz



Klaviervortrag aus Modelle für den Anfängerunterricht S.36



Sie werden sicher fragen, warum ich einen Vortrag mit dem Titel
Neugierig werden auf Musik von Schönberg mit einer Komposition
beginne, dessen Klangvorstellung sich für Sie möglicherweise gar
nicht mit dem Namen Schönberg verbindet und eher nach Schumann
oder Brahms klingt.



Es handelte sich also in der Tat um eine kompositorische Arbeit
von Arnold Schönberg. Es war ein Scherzo aus einem Lehrbuch für
Komposition mit dem Titel \"Modelle für den Anfänger im
Kompositionsunterricht\" welches der Kompositionslehrer 1942
veröffentlicht hat. Ähnlich wie die anderen Lehrbüchern von
Schönberg handelt auch dieses ausschließlich von traditioneller
Musik. Schon im Titel dieses Buches wird eines klar: Schönberg
ging davon aus, daß Komponisten des 20. Jahrhunderts am Anfang
Ihres Studiums in der Lage sein müssen, in den Stilen
vergangener Jahrhunderte zu komponieren. So war es auch für den
Traditionalisten selbstverständlich, sich selbst intensiv mit
Bach, Wagner, Brahms, Strauß, und Mahler und vielen anderen
europäischen Komponisten zu beschäftigen. Er bekennt sich offen
zu dieser abendländischen Musiktradition- genauer der des
deutschsprachigen Raumes - und nennt sich selbst einen
\"Schüler Mozarts\" (Stil und Gedanke S. 73). Deshalb kann er
auch sagen: \"Immer wieder zu hören, was einem gefällt, ist
angenehm und braucht nicht lächerlich gemacht zu werden.\" (Stil
und Gedanke S. 57).

... dann folgt jedoch Schönbergs ABER, doch ich will nicht

vorweggreifen...



Hören wir den Text eines Liedes \"Der genügsame Liebhaber\",
welches Schönberg 1901 komponierte. Er war damals gerade 26
Jahre alt und hatte - um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten -
gezwungenermaßen die Stelle eines Kapellmeisters bei dem
Berliner Kabarett \"Buntes Theater\" , angenommen.



Zitat 1 Verlesung des Liedtextes \"Meine Freundin...\"



Tondokument 1 CD \"Der genügsame Liebhaber\" dito



Die Kenner unter Ihnen mögen mir verzeihen, daß ich dieses Lied
vorstelle. Es ist sicher nicht eine typische Komposition im
Stile Schönbergs, aber die Beispiele zeigen, wie gut Schönberg
die Kompositionstechnik vergangener Jahrhunderte beherrschte.
Dabei spielten die Vokalkompositionen zu Beginn eine wichtige
Rolle. Hören wir deshalb auch noch das kleine Chorwerk \"Schein
uns Du liebe Sonne...\". Es stammt aus einer Sammlung von
Volksliedbearbeitungen, die Schönberg im Auftrag der
\"Staatlichen Kommission für das Volksliederbuch\" im Jahre 1928
verfaßte.



Tondokument 2 CD \"Schein uns Du liebe Sonne...\".



Ich hoffe, ich habe Sie damit ein wenig neugierig gemacht auf
das tonale Frühwerk von Schönberg, wahrscheinlich kannten viele
von Ihnen den Komponisten nur unter dem Schlagwort

\"Zwölftonkomposition\".

Wir werden zu dieser Thematik kommen. Ich möchte Ihnen Schönberg
aber zunächst von einer ganz anderen Seite vorstellen:



2. Schönberg als Maler, Erfinder und politisch denkender Geist






Schönberg sagt dazu in einem Interview mit Halsey Stevens:
\"Malen bedeutet für mich in der Tat das selbe wie Komponieren\",
Schönberg widmete sich bis 1912 der Malerei und schuf immerhin
58 Ölgemälde und etwa 150 Aquarelle. In einem Brief an den
Verleger der Universal-Edition bietet er sich als Maler an,
sicherlich auch, um seine finanzielle Situation zu verbessern.
Aus dem Brief geht die Selbsteinschätzung Schönbergs sowohl als
Maler als auch als Komponist hervor.



Zitat 2 \"Sie wissen, daß ich male...\"(rororo S. 61)



Dia 3 Hände 1910



Schönberg malte nicht nur, sondern widmete sich einer Fülle von
anderen Aktivitäten, z.B. war er als Erfinder tätig: Er entwarf
einen Plan eines für alle Berliner Verkehrsbetriebe gültigen
Umsteigescheins, den er mit einer 5-seitigen Begründung an die
BVB schickte und er entwickelte Pläne für autobahnähnliche

Verkehrssysteme in Los Angeles.




Zitat 3 Sincovicz 304



Daß nicht nur der Kommunismus für Schönberg ein Greuel war,
sondern insbesondere der Nationalsozialismus, bedarf kaum einer
Erwähnung: In Deutschland galt er als Komponist sogenannter
\"entarteter Kunst\", der gleichzeitig 1933 zum jüdischen Glauben
übergetreten war und wurde damit zum Prototyp des faschistischen
Hasses.



Dia 4 Roter Blick 1910



Zitat 4 Sincovicz 238







B) Hauptteil



0. Vorwort



Soweit zunächst etwas collageartig und einleitend einige
Impressionen zu dem 1874 in Wien geborenen, 1951 in Los Angeles
verstorbenen Tonsetzer. Ich möchte Ihnen heute in den folgenden
vier Abschnitten möglichst viele Aspekte der Musik Schönbergs
zeigen, wobei ich durch ein gesetztes Zeitlimit von einer Stunde
vieles weglassen muß, denn es sollte dann auch noch Zeit sein,
daß Interessierte Gelegenheit haben, mit mir ins Gespräch über

den Komponisten zu kommen.

Es ist eine oft gemachte Erfahrung, daß einem bei dem Namen
Schönberg meist Unverständnis und Ablehnung entgegentritt. Und
eine solche Ablehnung kommt nicht nur von denen, die von sich
sagen \"eigentlich verstehe ich nichts von Musik\", sondern auch
von anerkannten Komponisten und Dirigenten. Noch Jahrzehnte nach
Schönbergs Tod wetterte der Dirigent Sergiu Celibedache:



Zitat 5 Sincovicz 12.



Das der Dirigent sich zu solchen Polemiken herabließ, ist wohl
kaum rühmlich: Entweder kannte er das Werk Schönbergs nicht,
ließ sich in den Strudel derer mit hineinziehen, die von
\"entarter Kunst\" sprachen oder hatte einfach keine Lust, sich
mit einer solchen komplexen Kunstauffassung zu beschäftigen.
Dabei wußte Schönberg sehr genau, was er tat, wenn er so eine
zugegeben schwierige Musik komponierte. Mich persönlich hat
gerade das fasziniert: Die Lust, mich einer solchen glasklar
formulierten oder in Noten umgesetzten Provokation auszusetzen
und die eigenen Musikauffassungen durch die kantigen
Formulierungen Schönbergs genauer bestimmen zu können. Ich muß
feststellen, daß mich nach fleißigem Studium der so fremden
Geistigkeit, nach oftmaligem fleißigem Hören vieler seiner Werke
und nach ebenso fleißigem Studium seiner Partituren dann sowohl
seine Person als auch viele seiner Werke begeistern.

Ich möchte heute einiges davon aufzeigen, wodurch seinerseits
Schönberg bewegt wurde, seine Musik zu schreiben und mit welchen
unbegründeten Vorurteilen seiner Gegner er zu kämfen hatte. Das
ganze möchte ich tun unter Zuhilfenahme möglichst vieler Zitate
aus dem Munde des Komponisten. Ich glaube zwar, das es das
wichtigste ist, zunächst Verständnis für dieses musikalische
Bewußtsein zu erlangen, wir sollten dann im zweiten Teil des
Vortrags einige Ausschnitte aus seinen Werken zusammen hören
lernen, denn das richtige Zuhörenkönnen ist neben den Fragen des
musikalischen Bewußtseins das eigentliche Problem. Das richtige
Hören - genauer das adäquate Hören - ist das eigentliche
Problem, also ein Zuhörverhalten, welches den Intensionen des
Komponisten gerecht wird. Fangen wir damit an:



1. Rezeptionsprobleme



Neulich führte ich mit einem Freund ein Gespräch über das
Zuhören. Er erklärte mir, er sei jetzt in einer Gruppe, in der
man sich dem gegenseitigen Zuhören intensiv widmet. Eine Methode
sei das paraphrasierende Wiederholen. Zur Übung hatte die Gruppe
sich darauf verständigt, immer das gerade Gehörte unmittelbar zu
wiederholen, zu paraphrasieren, wobei damit nicht ein
seelenloses Nachplappern gemeint war, sondern es kam darauf an,
das Gehörte aktiv zu verarbeiten und gegebenenfalls zu
interpretieren. Auch in der Musik gibt es ein derartiges
Zuhörverhalten. Bezeichnend ist ein 1995 erschienenes Buch mit
dem Titel \"Der Hörer als Interpret\". Aktives Hören schließt
Anstrengung mit ein, sei es beim Zuhören in einem wertvollen
Gespräch oder sei es beim Hören von Musik, die ein intensives

Zuhören fordert.



Auch Schönberg war sich immer darüber im Klaren, daß es
Hörprobleme, d.h. Verständnisprobleme bei seiner Musik gibt.
\"Ich bin mir der Tatsache bewußt, daß das volle Verstehen meiner
Werke für einige Jahrzehnte nicht erwartet werden kann....\". Wir
haben gesagt, daß die Voraussetzung für gutes Zuhören inmd de
Fähigkeit besteht, daß man sich daran erinnern kann, daß man es
paraphrasieren kann. Der Meinung ist auch Schönberg und gibt
dazu ein schönes Beispiel: \"Es gibt keinen Zweifel über den
Augenblick, in dem ein Mann beginnt, an einem Schlager Gefallen
zu finden. Das passiert, wenn er anfängt, ihn zu singen oder zu
pfeifen - mit anderen Worten, wenn er sich ihn zu erinnern
vermag... Erinnern ist der erste Schritt zum Verstehen...
Natürlich ist der beste Weg, das musikalische Ohr zu schulen, es
soviel ernster Musik wie möglich auszusetzen. Die musikalische
Bildung würde schneller um sich greifen, wenn die Leute mehr
Musik läsen, spielten und hörten... Gerade [das intuitive oder
bewußte Verständnis vom Aufbaus] ...eines Stückes hilft dem
Hörer, den Gedanken zu behalten, seiner Entwicklung, seinem
Wachsen, seiner Ausarbeitung, seinem Schicksal zu folgen. Wenn
man gelernt hat,... Haupt- und Nebengedanken zu unterscheiden,
...wird man wissen, wie man diese als Zeichen der Erinnerung
benutzen kann.\" (Briefe, S.261, Stil und Gedanke S. 140f).

Den Gedanken, daß man seine Melodien nachpfeifen möge, greift er
anderer Stelle in einem Brief nochmals auf:




Zitat 6 Sincovicz 230



Ich glaube, diesen oftmaligen Hinweis Schönbergs darf man nicht
falsch verstehen. Natürlich wußte er, daß es einen enormen
Unterschied zwischen dem Nachpfeifen eines Schlagers und dem
Nachpfeifen einer zwölftönig komponierten Melodie gibt. Erstere
hört man ein oder zwei Mal, letztere muß man sich äußerst hart
erarbeiten.



2. Mission und Kunstauffassung



Aber zu der Frage, ob Kunst leicht konsumierbar sein sollte oder
Herausforderungen bieten sollte, hat sich Schönberg oft
geäußert. So schimpft er über die Äußerungen eines erfolgreichen
jungen Komponistenkollegen, der gesagt hatte: \"Die heutige
jüngere Generation mag keine Musik, die sie nicht versteht\",
Schönberg meint hingegen, daß diese Einstellung nicht
übereinstimmt \"mit dem Empfinden der Helden, die sich auf
Abenteuer einlassen. Man könnte erwarten, daß ein junger Mensch
von dem Schwierigen, Gefährlichen, Geheimnisvollen angezogen
wird, eher sagen würde: \'Ja bin ich denn ein Kretin, daß man mir
nur solches dummes Zeug vorsetzt, das ich verstehe, ehe ich es
zu Ende gehört habe?\' oder sogar: \'Diese Musik ist kompliziert,
aber ich will nicht nachgeben, bis ich sie verstehe.\' Natürlich
werden Menschen dieser Art von Tiefe, Gedankenreichtum,
schwierigen Problemen eher entflammt sein. Intelligente Menschen
sind zu allen Zeiten beleidigt gewesen, wenn man sie mit Dingen
belästigt, die jeder Trottel sofort verstehen konnte....Große
Kunst... setzt den beweglichen Geist eines gebildeten Hörers
voraus. Dies gibt dem Musiker die Möglichkeit, für eine geistige
Oberschicht zu schreiben... Denn wenn es Kunst ist, ist sie
nicht für alle, und wenn sie für alle ist, ist sie keine Kunst.\"

(Stil und Gedanke S.47, 52, 73)



Das sich in diesem Zitat dokumentierende Bekenntnis zu einer
heute so unpopulären gewordenen elitären Kunstauffassung
spiegelt sich auch in den folgenden Zitaten. Für ihn galt es,
den steinigen Weg seiner Mission einzuschlagen, denn \"Der
Mittelweg ist der einzige, der nicht nach Rom führt\"
(Chorsatieren 1925).

Er schreibt:

\"Aus dem Leben wahrhaft großer Männer kann man schließen, daß
der Schaffensdrang auf ein instinktives Lebensgefühl antwortet,
einzig, um der Menschheit eine Botschaft zu bringen... Mein
persönliches Gefühl ist, daß die Musik eine prophetische
Botschaft vermittelt, die eine höhere Form des Lebens enthüllt,
auf die die Menschheit sich hinentwickelt... Der oberste
Befehlshaber hatte mich [deshalb] auf einen schweren Weg
beordert... [denn -so sagt er von sich selbst]

Tapfere sind solche, die Taten verbringen, an die Ihr Mut nicht
heranreicht. Sie besitzen nur die Kraft, den Auftrag zu
konzipieren, und den Charakter, ihn nicht abweisen zu können.
War ein Gott noch so ungnädig, ihnen Erkenntnis ihrer Lage zu
gewähren, dann sind sie nicht zu beneiden. Und darum werden sie
beneidet. \" (Stil und Gedanke S.183, 202, Aus Vier Chorstücke,

op.27, Nr.1, Unentrinnbar).



Diese letzten Gedanken hat Schönberg Vier Chorstücke, op.27,
Nr.1 vertont:





3. Zwölftonmusik ( Schulwissen)



Tondokument 3,4 CD op.27, Nr.1 (1925)



Wie Bertold Brecht bezeugt, hatte Schönberg 1944 ihm gegenüber
bei einem gemeinsamen Dinner erklärt, \"im gegensatz zu anderen,
finde er seine werke mitunter schleußlich klingend. nachdem er
sie niedergeschrieben habe, verstehe er sie nur noch schwer und
müßte sie mühsam studieren.\" (Musikkonzepte, Sonderband, S.245).
Gehört diese 1925 geschriebene Chorfuge möglicherweise auch
dazu? Ich habe sie aber aus einem bestimmten Grund ausgewählt.
Dazu muß ich - wenn Sie mir erlauben - ein wenig ausholen:



Schönberg wird der Vater der Neuen Musik genannt. Außer der eben
dargestellten besonderen Ästhetik des Wahren anstatt des
Gefälligen, die vor allem bis in die 60er-Jahre in den Zentren
für Neue Musik als verbindlich galt, ist es natürlich auch die
Dodekaphonie, bekannter unter dem Namen Zwölftonmusik, mit der
eine neue Epoche der Musikgeschichte begann. Es ist
erforderlich, diese von Schönbergs erfundende
Kompositionsmethode in den Grundzügen zu erläutern. Da ist
dieses Chorstück zugleich ein Musterbeispiel dafür, wie man es
machen soll, und es ist auch ein Musterbeispiel dafür, wie man

es nicht machen soll...



Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer: Strapaziere ich Ihre Geduld
zu sehr? Das war sowohl ein gutes als auch ein schlechtes

Beispiel?



Zunächst: Was es denn nun eigentlich bedeutete, die bisher in
der Tonwelt vorherrschende Hierarchie der Töne zunehmend in
frage zu stellen, erläutert Schönberg sehr anschaulich in seiner
1911 verfaßten Harmonielehre. Er vergleicht die Stufen der
Tonleiter, in der ein Ton als der alles beherrschende Grundton
fungiert mit dem Verhältnis eines regierenden Herrschers zu

seinen Untergebenen.




Zitat 7 Tonalität HL 177



Im Anschluß an diese lebendige Darstellung läßt sich Schönbergs
\"Methode der Komposition mit zwölf (nur auf einander bezogenen)
Tönen\" ganz gut erläutern. Aus der hierarchischen Struktur der
Tonwelt wird nun eine konsequent demokratische, man möchte fast
sagen basisdemokratische: Keiner der auf dem Klavier zu
findenden 12 verschiedenen Töne darf sich innerhalb einer
Melodie als beherrschend hervortun, alle sollen gemäß der
Theorie Schönbergs gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Damit wird eine Tendenz, die es schon bei Komponisten wie Liszt
und Wagner gab, bis zur letzten Konsequenz getrieben,
systematisiert und innerhalb eines ästhetischen Kontextes
entwickelt wie sie dann auch bei anderen bedeutenden Komponisten
der Neuen Musik wie Boulez, dem frühen Stockhausen oder

Lachenmann zu finden ist.



Sicherlich gehört das eben vorgespielte Chorwerk zu den mit
äußerster Konsequenz zwölftönig komponierten Stücken: Es ist ein
Musterbeispiel, weil es so schön übersichtlich ist: Beim Studium
der Noten kann man die Kompositionstechnik relativ leicht
durchschauen: Die zwölf Töne der sogenannten chromatischen
Tonleiter wurden zunächst gleichberechtigt
nebeneinandergestellt. Dann wurde vor dem eigentlichen
Kompositionsvorgang daraus eine festgelegte Tonreihenfolge
erfunden , in unserem Falle der 7.-6.-2.-9...Ton etc., dann muß
der Chor schließlich nach einem bestimmten vorher festgelegten
Prinzip diese Reihe singen: Die eine Stimme beginnt die Tonreihe
von vorne zu singen, die andere muß die gleichen Töne vom Ende
beginnen, eine andere Stimme muß das singen, was man die
\"Umkehrung\" nennt, mit anderen Worten: war die Melodie bisher
aufsteigend, kehrt sich jetzt die Richtung um.

So wird die Zwölftonmusik oft im Schulunterricht erklärt und
dieses Werk mag manchem Gymnasiallehrer als willkommenes
Unterrichtsmaterial dienen, um schnell mal zu erklären, was die
Musik von Schönberg ausmacht... Diesen Schullehrern rufe ich
heute ein deutliches \"Mit nichten, meine Damen und Herren,\"
entgegen, \"so einfach und banal ist das zwar bei dieser sicher
auch aus Demonstrationszwecken geschriebenen Schulfuge, aber
damit ist bei weitem nicht der Kern des Kompositionsstiles von

Schönberg beschrieben!\"




4. Herz und Hirn in der Musik



In der Tat gab es zwar schon in dieser Zeit einen Komponisten,
der die Zwölftonmusik rein mechanisch und mathematisch verstand
- und sie sogar etwas früher als Schönberg anwandte: Es war der
in Wien lebende Komponist Josef Matthias Hauer. Er war ein
eifriger Verfechter rationaler Methoden des Komponierens.




Zitat 8 Sincovicz 181



Ich hoffe, Sie verstehen jetzt, warum das eben gehörte Beispiel
sowohl gut als auch schlecht ausgewählt war: Ein derartiges
mechanisches Abzählen von Tönen ist typisch für einige tastende
Versuche in dieser Kompositionsart, vor allem in der Frühphase
der Dodekaphonie, und beim Partiturstudium dann auch sehr
übersichtlich, aber keineswegs typisch für eine ausgereifte

Komposition Schönbergs.



Ich möchte in weiteren Beispielen andeuten, wie man auch anders
zwölftönig komponieren kann.

Kommen wir zu der Nr. 4 aus op.27. \"Der Wunsch des Liebhabers\" :
Anhand des Ihnen vorliegenden Auszuges der Partitur, welcher den
vollständigen Text und die Hauptstimmen enthält, kann ich
einiges näher erläutern. Sie sehen, daß der Text nach einem
kleinen Vorspiel von Klarinette, Geige und Mandoline zunächst
vom Sopran, später - in der Mitte der Seite - vom Tenor, unten
dann in Takt 31 vom Alt, und auf der zweiten Seite vom Sopran,
Baß und wieder Sopran vorgetragen wird.

Die träumerische Gesamtstimmung des Textes ist hervorragend
durch die schwebende Tonalität und die bizarre Besetzung
(Mandoline, Klarinette, Geige und Violoncello mit Dämpfern und
einem durchweg dolce singenden Chor) in Klang umgesetzt. Das
zwölftönig komponierte Werk ist inspiriert durch die chinesische
Pentatonik, durch Quint- und Quartklänge und davonhuschende
Figuren. Die in der chinesischen Musik benutzte Pentatonik kann
man am Klavier einfach darstellen, indem man nur schwarze Tasten
spielt. Schönberg beginnt seine Reihe mit diesen \"schwarzen fünf
Tasten\". Dann schreibt er die gleiche Folge einen Halbton tiefer
und hat damit 10 Töne komponiert. Die Folge ist so konzipiert,
daß die verbleibenden Töne e und h als Quinte sich hervorragend
für einen Bordunklang in der Mandoline eignen. (Erläuterungen
am Klavier). Hören wir diese einleitenden zwei Takte.



Tondokument 5 Nr. 4 aus op.27. \"Der Wunsch des Liebhabers\" Takt

1,2 (1925)



Wie Sie sehen, habe ich jeweils fünf Töne umkreist. Es sind
jeweils die pentatonische Folgen, wie sie in der Hauptstimme
erscheinen und aus den ersten 5 Tönen der Komposition abgeleitet
sind. Wir hören Sie uns zunächst am Klavier einmal an....

Jetzt hören Sie den vollständigen ersten Teil:



Tondokument 6 Nr. 4 aus op.27. \"Der Wunsch des Liebhabers\" Takt

1-16



Sie bemerken auch, daß der Komponist dieses Stück klanglich sehr
gut ausgehört hat. Nach einigem Einhören kann das Ohr die
Ausgewogenheit der führenden, meldodietragenden und der
begleitenden, Atmosphäre schaffenden Stimmen hören.



Obwohl dieses Stück relativ einfach konzipiert ist, setzt es
doch voraus, daß der Hörer sich einhört, er wird nur Freude an
dem Stück haben, sobald er die durch die Stimmen wechselnde
Melodie nachzuvollziehen kann, ansonsten wird er nur Chaos
empfinden. Beobachten Sie einmal Ihr eigenes
Wahrnehmungsverhalten beim nochmaligen Zuhören!



Tondokument 7 Nr. 4 aus op.27. \"Der Wunsch des Liebhabers\"
(Vollversion)



Bei vielen Stücken Schönbergs wird es nicht zu vermeiden sein,
daß der Hörer sich so weit mit den Noten des jeweiligen Werkes
vertraut macht, daß sie ihm eine Orientierung geben. Das Hören
von Musik wird also anders definiert als in mancher leicht
konsumierbaren Musik: Voraussetzung für ein adäquates Hören ist
bei vielen Werken der Neuen Musik das Studium der Partitur.
Lassen Sie mich es ein wenig überspitzt sagen: Es leuchtet ein,
daß es auch anstrengt, ein Buch zu lesen, alleine es unter das
Kopfkissen zu legen und sich dem Gefühl hingeben, man habe
Literatur in der Nähe des Kopfes, wird nicht ausreichen...



Damit ist ein Aspekt der Rezeption erfaßt. Daß es auch andere
Möglichkeiten gibt, zeigt das folgende Stück, das sich dem Hörer
unmittelbar erschließt. Hören wir aus op. 19 den Titel \"Sehr
langsam\":



Tondokument 8-10 op. 19,6 (1911)



Ich hoffe, ich konnte Sie überzeugen, daß Celebidache Unrecht
hatte, wenn er sagte, das klingt alles gleich!



Lassen Sie uns als letztes Beispiel des Beginn des
Violinkonzertes op. 36 gemeinsam hören. Ich muß Ihnen dazu
sagen, daß ich das Werk beim ersten Hören als ein großes Chaos
empfand und lange keine Freude hatte, mich mit ihm zu
beschäftigen. Schließlich erkannte ich: das Thema des Konzertes
ist nicht anders aufgebaut als ein dreiteiliges Lied mit den
Abschnitten A B C. Diese Struktur möchte ich Ihnen vermitteln.
Der Abschnitt A besteht aus einem Wechselspiel Frage-Antwort
zwischen der Sologeige und dem Orchester:




Tondokument 11



Dieses Frage-Antwortspiel setzt sich in den folgenden Perioden
fort. Der Abschnitt B beginnt zunächst mit einer geschwungenen

Melodie der Sologeige als Vordersatz.




Tondokument (12/)13



Abschnitt B endet dann mit der dazugehörigen Antwort als
Nachsatz.



Tondokument 14/15/16/17



auch im folgenden Abschnitt C gibt es eine derartige Periode mit
Vorder- und Nachsatz. Charakteristisch ist hier die
rhythmisch-energische Komponente.

Hören wir zunächst den Vordersatz des Abschnittes C:



Tondokument (18)19



und nun den ganzen Abschnitt C



Tondokument 20



Ich möchte Ihnen nun alle Abschnitte A-C des Violinkonzertes

vorspielen.




Tondokument 21/22/24






C) Schluß



Ich möchte zusammenfassen: Schönbergs größtes Verdienst war es,
das Musikdenken des 20. Jahrhunderts durch eine alles bisherige
übertreffende Radikalität provoziert zu haben und damit einen
Prozeß in der musiktheoretischen und musikästhetischen
Diskussion ausgelöst zu haben, dessen Auswirkungen heute noch
spürbar sind. Das ganze bleibt nicht frei von spannungsreichen

Widersprüchlichkeiten und Paradoxien:



Er entwickelte einerseits sein gewissermaßen

\"basisdemokratisches\" Tonsystem und sagte andererseits von sich
selbst, er habe eine \"Abneigung gegen Demokratie u. dergl.\"

(Briefe S. 116f.).



Er wurde einerseits der \"Vater der Neuen Musik\" und ein
vorausschauender Revolutionär und Avantgardist genannt.
Andererseits wurde er als Meister des motovisch-thematischen
Denkens den Traditionalisten der Romantik zugerechnet, die fern
von jeder Musikästhetik des 20. Jahrhunderts lägen (Adorno).



Linke Ideologen feierten ihn - insbesondere nach seinem Spätwerk
\"The Survivor from Warsaw\" als großen antifaschistischen
Komponisten, die anderen warfen ihm vor, ein \"potentieller
Faschist\" zu sein, insbesondere weil er nicht nur davon
überzeugt war, daß die Vorherrschaft der deutschen Musik in der
Welt für die nächsten hundert Jahre gesichert sei, sondern, daß
er seine Zwölftontechnik als Ursache für diese deutsche
Überlegenheit ansah. (Musikkonzepte S.185,188, rororo S. 100)



Diejenigen aber, die ebenfalls davon überzeugt waren, daß am
deutschen Wesen die Welt genesen soll, waren seine größten
Feinde.

Lassen Sie mich enden mit einer kleinen Kuriosität: In seinen
1947 veröffentlichten Menschenrechten, in denen er sich u.a. für
die Toleranz zwischen den Kulturen einsetzt, schreibt Schönberg:
\"Man muß auch die Menschenfresserrechte anerkennen. Sie beruhen
auf der instinktmäßigen Erkenntnis, daß aus Blut wieder Blut und
aus Fleisch wieder Fleisch wird. ...\" (Stil und Gedanke S.199)

Ich möchte dazu sagen: Man muß - bei allem Respekt - nicht
alles, was aus der Feder von Geistesgrößen stammt, kritiklos
hinnehmen, und es ist wirklich auch nicht jedes Detail zu
empfehlen...

Ich danke Ihnen.

Werkverzeichnis Arnold Schoenberg

 
 



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