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mathematik artikel (Interpretation und charakterisierung)

Bruners thesen zum entdeckenden lernen





J. S. Bruner geht davon aus, dass nur ein Mensch, der in seiner Umwelt Ordnungen und Beziehungen erwartet, nach ihnen suchen und sie finden wird.
Zur Begründung dieser Ansicht beruft er sich auf ein psychologisches Experiment, bei dem die Versuchsperson an einem Zweifachwahlapparat durch Drücken der linken oder rechten Taste Marken gewinnen kann. Die Marken werden bis auf die Tatsache, dass Drücken der rechten Taste in 70% aller Fälle erfolgreich ist, Drücken der linken Taste in 30% aller Fälle - völlig zufällig herausgegeben. Bei den Probanden lassen sich im Wesentlichen zwei Reaktionsmuster unterscheiden: Ein Teil der Versuchspersonen geht davon aus, dass es keinen Plan gibt und geht infolgedessen dazu über, immer die rechte Taste zu drücken. Die andere Gruppe der Teilnehmer nimmt eine Sequenz bei der Ausgabe der Marken an. Diese Gruppe testet nacheinander verschiedene Hypothesen, wobei die Personen durchschnittlich in 70% aller Fälle die rechte, in 30% die linke Taste drücken. Da es tatsächlich keinen Plan gibt, ist die erste Gruppe erfolgreicher: Sie erhalten 70% der möglichen Marken, wogegen die zweite Gruppe durchschnittlich 58% erhält. Bruners hält das Ergebnis dieses Experiments für eine Bestätigung seiner These, weil die zweite Gruppe - gäbe es einen Plan - diesen irgendwann herausfände und ab diesem Zeitpunkt alle Marken erhielte, während die erste Gruppe bei 70% der Marken verbliebe.

An dieser Stelle wurde während der Seminarsitzung eine kurze Diskussion geführt, in deren Verlauf alle Seminarteilnehmer Bruners These akzeptierten. Als Beispiele, in denen die These offensichtlich stimmt, nannten die Teilnehmer die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, der sich sicher war, dass es einen Seeweg nach Indien gibt und sich ja nur deshalb auf die Reise begab und die Tatsache, dass Menschen, die mit offenen Augen durch die Welt laufen, auch mehr von ihrer Umgebung wahrnehmen. Ferner wurde gerade der Schulbeginn als eine Schnittstelle im Leben eines Menschen hervorgehoben, an der die meisten Kinder noch die Erwartung hegen, etwas Neues und Interessantes zu erfahren und somit die Chancen für eine Bestätigung und Förderung dieser Erwartungen sehr gut sind, andererseits aber auch die Gefahr besteht, dass sich Neugier und Lust am Lernen schnell in Frust, Ablehnung oder Passivität wandeln, wenn die Erwartungen der Schüler größtenteils nicht erfüllt werden. Darüber, ob die Wahl des Experiments als Bestätigung der These passend ist, herrschte Uneinigkeit. Irreführend an diesem Experiment finde ich, dass die \"planlose\" erste Gruppe ja mehr Marken bekommt, im Rahmen des Versuchs also erfolgreicher ist als die \"erwartungsvolle\" zweite. Ferner entstanden folgende Fragen, die sich anhand der gegebenen Beschreibung des Experiments nicht klären ließen: Vielleicht entstehen die unterschiedlichen Reaktionsweisen durch ein unterschiedliches Interesse der Versuchspersonen am Experiment? (Es kann schließlich auch sehr nervend und langweilig sein, unzählige Male hintereinander eine Taste zu drücken.) Vielleicht hat auch die erste Gruppe eine bestimmte Erwartung bezüglich Ausschüttung der Marken oder Ergebnis des Versuches, die aber für die Versuchsleiter nicht ersichtlich wurde bzw. nach der die Probanden nicht gefragt wurden?
Ergänzend möchte ich noch einen (spekulativen) Gedankengang aufzeigen: Bruner muss als Mathematikdidaktiker immer zwischen zwei \"wissenschaftlichen Welten\" vermitteln: Der meist eindeutigen, logisch aufgebauten und sehr exakt formulierten Mathematik und den für die Didaktik relevanten Bereichen der Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie, deren Erkenntnisse meist nicht im mathematischen Sinne beweisbar und zudem teilweise sehr subjektiv sind. (Um sich dies vor Augen zu führen, kann der Leser an dieser Stelle überlegen, wie ein Psychoanalytiker - Genau genommen müsste man noch zwischen verschiedenen Schulen unterscheiden! - bzw. ein Behaviorist die Neugier und Lernlust eines Erstklässlers hinsichtlich ihrer Ursachen interpretieren würden.) Nun ist es meiner Meinung nach eine Erfahrungstatsache, dass nur ein Mensch, der Ordnungen und Beziehungen in seiner Umwelt erwartet, diese auch suchen wird, d.h. viele Menschen finden dies einleuchtend und würden es auch ohne \"Beweis\" akzeptieren. Vielleicht versucht Bruner, den Mathematikern die Mathematikdidaktik als \"gleichwertige\" Wissenschaft zu präsentieren, indem er seine Aussagen auf möglichst korrekte Art beweist. Leider bedient er sich hier eines ungeschickt gewählten, da eher irreführenden Experimentes. (Vielleicht versucht er aber auch, seine eigenen Ansprüche an Korrektheit zu erfüllen?)

Ein weiterer Vorteil Entdeckenden Lernens besteht nach Bruners Ansicht darin, dass Erfolg und Misserfolg nicht mehr als Belohnung und Bestrafung sondern als Information erlebt werden. Außerdem werden die Schüler weniger abhängig von äußeren Belohnungen: Sie gehen allmählich dazu über, die Entdeckung selber zu belohnen. (Bruner verwendet den Ausdruck \"autonome Selbstbelohnung\".)
Der Autor orientiert sich in diesem Zusammenhang an einem Modell von White aus dem Jahre 1959, wonach eine intrinsische \"Kompetenzmotivation\" als das jedem Menschen innewohnende Bedürfnis, mit seiner Umgebung umgehen zu können, angenommen wird. Durch das Üben der dazu nötigen Fähigkeiten (und die damit einhergehende Erfahrung, besser mit der Umwelt \"klarzukommen\") erhöht sich der Einfluss der Kompetenzmotivation auf das Verhalten. Lernen erfolgt dann stärker aufgrund einer inneren Motivation als aufgrund extrinsischer Belohnungs- und Triebbedürfnisse.



Exkurs: Die Gegenthesen von Ausubel, Novak und Hanesian

Die Autoren stellten in ihrem Artikel \"Psychologische und pädagogische Grenzen des entdeckenden Lernens\" aus Bruners Artikel zwölf Thesen zusammen, die sie einzeln zu widerlegen versuchen. Meiner Meinung nach muss man allein schon über einige der aufgestellten Thesen diskutieren, da sie für mich nicht in dieser Form ableitbar sind. Zum Beispiel ist die These der Autoren, dass die Entdeckungsmethode die Hauptmethode der Vermittlung von Fachwissen sein sollte, für mich nicht uneingeschränkt aus Bruners Artikel ersichtlich. Ich werde mich an dieser Stelle nur mit den beiden Gegenthesen befassen, die sich auf die letzte im vorhergehenden Kapitel aufgestellte Behauptung beziehen.
Demnach sehen Ausubel, Novak und Hanesian keinen direkten Zusammenhang zwischen Entdeckendem Lernen und intrinsischer Motivation einerseits und rezeptivem Lernen und extrinsischer Motivation andererseits. Die Autoren sind sogar der Ansicht, dass Entdeckendes Lernen häufiger mit extrinsischer, rezeptives Lernen mit intrinsischer Motivation verbunden ist. Diese Aussage wird nicht begründet. Weiter schreiben sie, dass es von zwei Faktoren abhängt, ob ein Lernender eher extrinsische oder intrinsische Motivation zeigt: Von der inneren Selbstachtung und dem damit verbundenen Bedürfnis nach ausgleichendem äußeren Studium und von der Stärke seiner kognitiven Bedürfnisse, die durch ererbte und temperamentsabhängige Faktoren und die bisherigen Lernerfahrungen bestimmt wird.
Ferner stellen die Autoren die Behauptung auf, dass nicht nur Entdeckendes Lernen Motivation und Selbstvertrauen erzeugt: Auch die geschickte Darbietung von Ideen in einem Lehrervortrag kann ein hohes Interesse und die Motivation zu echter Forschung im Schüler wecken. \"... (W)arum sollten Entdeckungsmethoden uns unbedingt mehr Vertrauen einflößen, daß es im Universum entdeckbare Gesetzmäßigkeiten gibt als die Methode des rezeptiven Unterrichts, deren Aufgabe zuletzt doch die Darstellung und Erklärung dieser Gesetzmäßigkeiten ist? Es ist richtig, daß erfolgreiches entdeckendes Lernen ein solches Vertrauen stärkt. Aber erfolglose Entdeckungsversuche haben genau die entgegengesetzte Wirkung, wie das Wiederaufleben magischen und abergläubischen Denkens zeigt, das dann folgt, wenn man vergeblich nach Mustern der Gesetzmäßigkeit in der Natur gesucht hat.\" 4)
In den Seminarsitzungen kamen wir immer wieder zu dem Schluss, dass Entdeckendes Lernen nicht die einzige Methode zum Wissenserwerb und speziell zur Unterrichtsgestaltung sein kann und darf, zum Einen wegen der von Ausubel, Novak und Hanesian genannten Gefahr, dass zu viele erfolglose Entdeckungsversuche für den Lernenden frustrierend sind, zum Anderen wegen der begrenzt zur Verfügung stehenden Lebens-, Unterrichts- und damit Lernzeit: Ich kann in der heutigen Zeit einen Schüler die Jahrtausende alte Wissenschaftsgeschichte nicht einmal annähernd durch eigenes Entdecken nachvollziehen lassen. Ein für mich anzustrebender Unterricht besteht immer aus einander abwechselnden Phasen verschiedener Formen des rezeptiven Lernens und Entdeckens. Insofern entsteht auch an dieser Stelle der Verdacht, dass die drei Kritiker Bruner zu einseitig interpretieren.

 
 


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