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kunst artikel (Interpretation und charakterisierung)

Rettung





Mein Mädgen ward mir ungetreu, Das machte mich zum Freudenhasser.

Da lief ich an ein fließend Wasser,
Das Wasser lief an mir vorbei.

Da stund ich nun verzweifelnd stumm,
Im Kopfe war mirs wie betrunken,

Fast wär ich in den Strom gesunken,
Es gieng die Welt mit mir herum.

Auf einmal hört ich was das rief.
Ich wandte just dahin den Rücken,

Es war ein Stimmchen zum Entzücken:
Nimm dich in acht! der Fluß ist tief.

Da lief mir was durchs ganze Blut,
Ich seh, so ists ein süßes Mädchen.

Ich frage sie, wie heißt du? Käthchen.
O schönes Käthchen, du bist gut.

Du hältst vom Tode mich zurück
Auf ewig dank ich dir mein Leben.

Allein das heißt mir wenig geben,
Nun sei auch meines Lebens Glück.

Und dann klagt ich ihr meine Noth;
Sie schlug die Augen lieblich nieder,

Ich küßte sie und sie mich wieder:
Und vor der Hand nichts mehr vom Tod.
Beim Lesen des Gedichts fällt zuerst ein Riß auf, der durch das ganze Gedicht geht. Zwischen der Ernsthaftigkeit des Themas (Selbstmordgedanken) und der lockeren Art der Behandlung besteht eine deutliche Diskrepanz.
Das auffälligste Wort in dem Gedicht ist \"Freudenhasser\" (Z.2), welches mir bei dem Gedanken an Selbstmord völlig unangemessen erscheint. Wahrscheinlich benutzt man im Leiden für das Leiden andere Wörter als nachher. Das ist hier offenbar der Fall: jemand berichtet im Nachhinein von einem Wechsel zwischen Traurigkeit und Fröhlichkeit; das ist das erzählende Ich. Das erlebende Ich empfindet im gleichen Augenblick die Gefühle, in dem sie eintreten. Das erzählende Ich distanziert sich durch die Formulierung von dem erlebenden Ich, das es selbst einmal war: \"Freudenhasser\".
Die Mißbilligung oder Verständnislosigkeit zeigt sich auch noch in anderen Fällen; die Zeilen 6 und 7 wären vom erlebenden Ich auch wohl anders formuliert worden. Das ändert sich ab Zeile 9. Die distanzierenden Kommentare bleiben aus. Das erzählende Ich hat nun keine Bedenken mehr, sich mit dem erlebenden Ich zu identifizieren. Ab Zeile 14 geht das erzählende Ich sogar für einige Zeit ins Präsens; es kommen direkte Reden ohne Einleitungsformel wie \"sagtet\', \"antwortete\" usw. vor, und die prädikatlose Aussage der letzten Zeilen könnten sowohl vom erzählenden als auch vom erlebenden Ich stammen.
Interessant an diesem Gedicht ist vor allem, wie etwas erzählt wird. Solange von der Verzweiflung des erlebenden Ichs geredet wird, hält sich das erzählende Ich auf Distanz durch Wort- und Tempuswahl. Je heiterer das erlebende ich wird, desto mehr verzichtet das erzählende Ich auf distanzierende Formulierungen und bekundet zudem noch seine Anteilnahme durch den Übergang ins Präsens.
Dieses Gedicht könnte man fast als einen kleinen Erziehungsroman bezeichnen. Das ehemals erlebende Ich wird in der Rückschau unter Aufsicht des erzählenden Ichs zu einem Ziel geführt, von dem es im Moment des Erlebens natürlich noch nicht hat wissen können, das aber das erzählende Ich bestens kennt. Denn das Ziel ist das erzählende Ich selbst in seiner Heiterkeit.
Dieses Gedicht ist also zielgerichtet, es läuft auf eine Schlußpointe hinaus, welche einen doppelten Boden hat. Einmal markiert sie das Ende des Gedichts und zum andern auch das Ende der Erziehung, die dem erlebenden Ich zugemutet wird. Der Text propagiert in erster Linie die Haltung, die das erzählende Ich im Laufe des Gedichts vorführt. Es ist die Haltung eines \"lächelnden Weisen\", der durch nichts aus seiner Heiterkeit gebracht wird, der die Freuden des Lebens genießt und die Leiden leicht erträgt, weil er weiß, daß die Freuden vergänglich sind und eben deshalb auch die Leiden.
Diese Rolle ist so allgemein gespielt, daß jeder in sie hineinschlüpfen könnte. Es ist schwer, hier zwischen Erzähler und Autor zu unterscheiden und sich hinter der Maske des unbeschwerten Erzählers z.B. einen grundsoliden und eher gehemmten Autor vorzustellen. Dies ist ein Grundzug der scherzhaften Dichtung mit ihrer überindividuellen Rollenhaftigkeit. In dieser Poesie werden Sorgen, Probleme oder Konflikte dadurch bewältigt, daß man sie fröhlich vergißt, oder man sie allenfalls in jener Rolle vorträgt. Dieses Spiel in seiner Finalität und Lehrhaftigkeit, in seiner überindividuellen Rollenhaftigkeit und ortlosen Gesellschaftlichkeit hat auch Goethe mitgespielt.
Goethe hat das Ich in zwei verschiedene Aspekte geteilt. Das erzählende Ich ist unerschütterlich heiter, wie gewöhnlich, und direkt daneben ist das wohl noch nicht lang verflossene erlebende Ich, das von einem Extrem ins andere geworfen wird, von Selbstmordabsicht fast übergangslos zu verliebter Tändelei.

 
 



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