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informatik artikel (Interpretation und charakterisierung)

Geschichte

Echtzeit und eigenzeit


1. Java
2. Viren

Unsere Apokalypse ist nicht real, sie ist virtuell.

Und sie kommt nicht in Zukunft,
sondern sie findet hier und jetzt statt.

Jean Baudrillard
Die Probleme des Individuums beim anstehenden Übergang in die Informationsgesellschaft zentrieren sich um den Zeitbegriff. Zeit wird zu Echtzeit. Echtzeit ist der Zeitbegriff des Computers. Von ihm wird Information nahezu zur gleichen Zeit verarbeitet, in der sie entsteht. Echtzeit sollte daher der Zeitbegriff sein, mit dem sich die computervernetzte Gesellschaft der Zukunft auseinandersetzen muß. Dies stellt an den Einzelnen neue Anforderungen: Echtzeit ist in vielerlei Hinsicht der \"Feind\" von Bedeutung und Sinn. Information muß vom Menschen beim Verarbeiten mit Bedeutung und Sinn belegt werden. Sie muß auf irgendeine Art verstanden werden. Simultanes muß desimultanisiert werden.
Das menschliche Gehirn besitzt dafür Mechanismen, mit denen die eingehende Information einer beträchtlichen Komplexitätsreduktion unterzogen werden kann. Nach der Kognitionsforschung ist die bewußt verarbeitete Information um einen Faktor von ca. 107 geringer als die eingehende Information. Für diese enorme Selektionsleistung braucht das Gehirn Zeit. Es muß Geschehnisse der Außenwelt in gewisser Weise intern verlangsamen, um sie mit einer jeweils individuellen Eigenzeit verarbeiten zu können. Nur wenn dies gelingt, können die Ereignisse einer Ursachen- und Wirkungsbetrachtung unterzogen werden, und nur dann haben sie für den Menschen einen Sinn. Oder klassisch soziologisch: Nur dann können sie überhaupt \"handlungsanweisend\" sein. Sind diese Mechanismen überlastet, haben Ereignisse in der Umwelt keinerlei Bedeutung mehr. Dieser Umstand ist der Medienwirkungsforschung schon lange bekannt.
Parallel zur Entwicklung der Computertechnik kam es in den letzten zehn Jahren zu einer Inflation massenmedial vermittelter Information durch die audiovisuellen Medien. Eine Entwicklung hin zur Echtzeit wird so schon längst betrieben und die daraus entstandenen Probleme bestimmen heute schon die politische Tagesordnung. Bis vor kurzem wurden in der BRD die massenmedialen Inhalte indirekt vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk kontrolliert und in ihrer Komplexität \"vorreduziert\". So existierte in Deutschland lange Zeit eine relativ homogene Medienrealität mit kohäsionsstiftender Funktion für die Rezipienten (z. B. \"Tatort\" Sonntagsabends o. ä.). Inzwischen übermitteln die Massenmedien in jeder Minute eine Vielzahl von Ereignissen aus entferntesten Räumen, nahezu zeitgleich mit ihrem aktuellen Ablauf - in Echtzeit eben. Die Unterscheidung, ob Ereignisse geschehen und dann von den Medien gesendet werden, oder ob sie geschehen, weil sie von den Medien gesendet werden, kann nicht mehr eindeutig gefällt werden und ist in vielerlei Hinsicht obsolet geworden.
Da Information nicht mehr \"vorreduziert\" wird und sich weiterhin exponentiell vermehrt, muß jetzt vom Individuum viel mehr Information in viel direkterer Weise verarbeitet werden (oder auch nicht). Die homogene Medienrealität wird mehr und mehr abgelöst zugunsten stärker individuell geprägter Medienrealität. Die Echtzeit ist der Eigenzeit weit davongaloppiert, so daß die meisten Ereignisse sinnlos an der Mehrheit der Rezipienten vorüberziehen. Viele leben also längst in ihrem virtuellen Medienraum, der schon vor dem \"richtigen\", interaktiv gestalteten Cyberspace weit ausdifferenziert sein wird.
In Jean Baudrillards Szenarien hat deswegen der entscheidende Übergang schon längst stattgefunden - allerdings auf katastrophische Weise. Der Übergang ins virtuelle Zeitalter, das Ende der Geschichte, die Überwindung von Raum und Zeit, hat stattgefunden, ohne daß es jemand gemerkt hat und ohne daß man dafür Science Fiction gebraucht hätte. Durch »die Beschleunigung der Moderne, der Technik, von Ereignissen und Medien, sowie die Beschleunigung aller ökonomischen, politischen und sexuellen Tauschhandlungen« haben wir uns in eine Befreiungsgeschwindigkeit versetzt, daß der Bezugsraum der Realen längst verlassen wurde. In einer Analogie zur Physik beschreibt er das Wegbeschleunigen sämtlicher Sinnkonstrukte: Wie ein Körper, der so stark beschleunigt wird, daß er die Anziehungskraft seines Planeten überwindet und ins unendliche All hinausgeschleudert wird, ist die Gesellschaft, mitsamt ihrer Geschichte und ihrer Politik durch ihren \"Teilchenbeschleuniger Massenkommunikation\" längst in den Hyperraum der Simulation, des Nichtrealen, geschleudert worden.
»Eine gewisse Langsamkeit (das heißt, eine bestimmte, nicht zu hohe Geschwindigkeit), eine gewisse, aber nicht allzu große Distanz und eine gewisse, nicht allzu große Freisetzung sind notwendig, damit jene Art von Verdichtung oder Verfestigung entstehen kann, die für Ereignisse so bezeichnend ist, die man Geschichte nennt, also jene Art kohärenter Entfaltung von Ursachen und Wirkungen, die man das Reale nennt«.
Ereignisse verschwinden schon wieder im Moment ihrer Entstehung. Durch direkte Übermittlung kommt es zu einer Rückkopplung von Ursache und Wirkung. Dadurch wird der Zeitbegriff endgültig eliminiert und dem Menschen keinerlei Chance mehr auf Informationsverarbeitung in Eigenzeit gegeben. Für Baudrillard hat der Mensch die Informationsverarbeitung längst eingestellt. Alles, was passiert, wird um seine Wirkung betrogen. Dementsprechend führt die Beschleunigung der Informations- und Kommunikationsprozesse auf der Medienseite zu einer Verlangsamung von Sinn auf der Rezipientenseite. Hierfür sieht er eine zweite Analogie, die ebenfalls aus der Physik stammt. Mit dieser Analogie beschreibt Baudrillard den »Astralkörper von schweigenden Mehrheiten«, dem die Politiker der westlichen Demokratien heute wie paralysiert gegenüberstehen: Nach der allgemeinen Relativitätstheorie verzögert die Materie den Ablauf der Zeit. Sterne mit großen Massen haben eine so starke Gravitationskraft, daß sie selbst das Licht anziehen (Licht besitzt eine sehr geringe träge Masse). Die Wellenlänge des Lichtes wird größer, was physikalisch eine Verlangsamung des Eigenzeitverlaufs dieses Sterns bedeutet. Überschreitet der Stern eine gewisse, kritische Masse, implodiert er zu einem sogenannten kalten Stern (ein sog. Neutronensterne oder Schwarzes Loch). Das Licht erlischt. Die Eigenzeit steht still. Analog ist das Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Information. Wird in der Gesellschaft eine kritische Informationdichte überschritten, entsteht eine entsprechende Trägheitskraft mit immer langsamer werdender Eigenzeit, ein gewaltiges Potential schweigender Gleichgültigkeit, das alles aufsaugt und immunisiert:
»Diese träge Masse des Sozialen ist nicht mehr das Ergebnis von fehlenden Tauschhandlungen, des Mangels an Information oder Kommunikation, sondern sie resultiert ganz im Gegenteil aus der Vervielfachung und Häufung von Tauschhandlungen [...]. Diese träge Masse ist der kalte Stern des Sozialen; und rund um diese Masse erkaltet die Geschichte. Völlig gleichgültig folgen Ereignis- se aufeinander und löschen sich gegenseitig aus. Neutralisiert und immunisiert durch die Information [...]. Dieses Mal ergibt sich das Gegenteil: Geschichte, Sinn und Fortschritt erreichen nicht mehr ihre Befreiungsgeschwindigkeit [...]. Die politischen Ereignisse haben schon keine Eigenenergie mehr, die ausreichend wäre, um uns in Bewegung zu versetzen; sie laufen wie ein Stummfilm ab, für den wir kollektiv nicht verantwortlich sind. Hier endet die Geschichte [...]. Jede gesellschaftliche, geschichtliche und zeitliche Transzendenz wird von dieser Masse in ihrer schweigenden Immanenz absorbiert [...]. Die Wirkungen beschleunigen sich, aber ihr Sinn verlangsamt sich unerbittlich [...]«.
Der Geschichte und der Politik wurde ihr Sinn wegbeschleunigt. Alles wurde wegbeschleunigt, sogar unser eigenes Ende, ohne daß es jemand gemerkt hätte. Auf kein Jüngstes Gericht können wir mehr hoffen, vor keiner Atombombe dürfen wir mehr Angst haben. Baudrillard kapituliert vor der Auflösung des \"WIR\", vor der Auflösung sämtlicher finaler Modelle wie Ideologien und Religionen durch die Beschleunigungsexzesse der Massenkommunikation und endet dramatisch:
»Wir haben unser Ende von nun an in Satellitenform gebracht, und zwar nach dem Vorbild aller Finalitäten, die früher transzendent waren und nun schlicht und einfach orbital geworden sind. [...] Jetzt, wo man die Augen der Revolution geschlossen hat, jetzt, wo man die Augen vor der Revolution geschlossen hat, jetzt, wo man die Schandmauer durchbrochen hat, jetzt, wo die Lippen des Protestes sich geschlossen haben, jetzt, wo weder das Gespenst des Kommunismus noch das der Macht weder Europa noch die Erinnerung heimsucht, jetzt [...] haben wir nicht mehr die Wahl, voranzugehen, in der jetzigen Zerstörung zu verharren oder zurückzuweichen, sondern können nur noch die radikale Illusion der Welt ins Auge fassen«.
Die Kreation neuer Virtual Communities ist für ihn nur noch ein redundantes Unterfangen und kommt sowieso viel zu spät. Durch das geräuschlose Verschwinden des Endes sind wir längst überlebende Unsterbliche in einem Cyberspace, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

 
 

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