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geschichte artikel (Interpretation und charakterisierung)

Freuds deutung: sandmann-motiv und kastrationsangst -



Die eigentliche Wirkung des Unheimlichen in E.T.A. Hoffmanns Sandmann macht Freud an der Figur des Sandmanns fest: mit ihr innig verknüpft ist das Motiv des Augenausreißens. Dies erhellt durch folgenden Dreischritt:

Erstens: Nathanael und seine Geschwister werden zu Kinderzeiten nur an Abenden, über die eine nervöse Unruhe der Mutter gebreitet liegt, früh zu Bett geschickt. Dabei erhalten sie den Hinweis: \"Der Sandmann kommt\" und die bloße Erklärung: \"Ihr seid schläfrig und könnt die Augen nicht offen halten, als hätte man euch Sand hineingestreut.\" (Der Sandmann, in: Nachtstücke, erster und zweiter Teil, München 1984, S. 10). Die Amme ergänzt das kindliche Vorstellungsvermögen, indem sie hinzufügt, der Sandmann sei: \"Ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen; die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Enten; damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen aus.\" (Sandmann, S. 11)

Zweitens: verbindet sich durch die Besuche des seines abscheulichen Äußeren und seines unappetitlichen Verhaltens wegen verhassten Advokaten Coppelius an ebenjenen Abenden die Figur des Sandmann mit der Person des dilettierenden Alchemisten Coppelius.

Drittens: Während eines alchemistischen Versuchs (Hexenküchenszene) herrscht dieser den Vater Nathanaels mit den Worten an: \"Augen her, Augen her!\" (Sandmann, S. 14). Nathanael, die Szene heimlich beobachtend, wird von panischem Schrecken ergriffen und verrät sich dem Coppelius durch einen Aufschrei, woraufhin der ihn ergreift und ihm glutrote Körner aus der Esse in die Augen zu streuen sucht (Blendung des Nichteingeweihten). Der Vater bittet die Augen des Kindes frei, es folgt eine katatonische Reaktion Nathanaels mit Ohnmacht und langer Krankheit.

Nunmehr wird ersichtlich, daß das Sandmann-Motiv identifiziert werden darf mit der Angst und der Vorstellung, der Augen beraubt zu werden. Es ist sohin das tragende Element des Unheimlichen in Hoffmanns Erzählung.

Freud geht indes einen Schritt weiter, indem er die Erblindungsangst als eine Ersatzbildung für die weit ältere Kastrationsangst erklärt. Analytische Empirie, Folklore sowie Traumforschung legen diesen Schritt nahe. Und nicht zuletzt: Beispiele aus den Mythen der Völker, darunter die allgegenwärtige Verknüpfung von Phallus und Auge im ägyptischen und griechischen Mythos bis hin zur Selbstblendung des Ödipus, die \"nur eine Ermäßigung für die Strafe der Kastration ist, die ihm nach der Regel der Talion (Gesetz, das gleiches mit gleichem vergilt, Anm. d. Autors) allein angemessen wäre.\" (Das Unheimliche, S. 243). Erst die Vorstellung, des Phallus beraubt zu werden, schafft den nötigen Nachhall für die vorsorgliche Angst um andere wertvolle Organe.

Daß diese Ersatzbildung auch und gerade im Sandmann zum Tragen kommt, beweist Freud anhand des Todes von Nathanaels Vater. Des erwachsenen Protagonisten Augenangst, die in der Olimpiaepisode und deren tragischem Ausgang, der Zerstückung der Puppe, ihren vorläufigen dramatischen Höhepunkt findet, ist geknüpft an den Tod des Vaters. Um dies zu verdeutlichen, muß hier ein kurzer Einschub über die Freudsche Theorie des Kastrations- bzw. Ödipuskomplex erfolgen.

Erstes Libidoobjekt des männlichen Kindes ist natürlich die säugende Mutter, der es entwachsen ist. Der Vater nimmt in diesem komplexen Beziehungsgebilde früh die Stelle des Rivalen ein und droht symbolisch mit der Kastration des Kindes, sollte es seinen inzestuösen Strebungen nicht entsagen. Der größte Wunsch des Kindes, die Mutter zu \"besitzen\", im Sinne freilich einer oralen Einverleibung, ist also geknüpft an den drohenden Verlust seines Geschlechtsorgans. Nährt das Kind diesen Wunsch nicht weiter, indem es sich mit dem Vater zu identifizieren beginnt und ein Teil seiner Objektlibido von der Mutter auf den Vater übergeht, ist der Ödipuskomplex überwunden. Das Kind strebt einer \"normalen\" Entwicklung entgegen. Dem ist jedoch nicht so, wenn der Kastrationskomplex verdrängt wird, die Rivalität zum Vater in Haß umschlägt oder die angstbegleiteten Gefühle gegen ihn einem femininen Gefühl weichen, selbst von ihm besessen werden zu wollen.

Im Sandmann wird der ödipale Urwunsch, den Vater als Rivalen im Kampf um die Mutter zu beseitigen, dieser von der Verdrängung am stärksten betroffene Teil des Komplexes, auf Coppelius übertragen, dem der Vatermord durch eine Explosion während des geplanten letztmaligen alchemistischen Experiments zur Last gelegt wird. Anders gesagt: Nathanael projiziert die eigenen vatermörderischen Gedanken auf Coppelius. Und der scheint ein dankbares Objekt der neurotischen Übertragungen Nathanaels zu sein: Als \"Sandmann\" ist er Störfaktor für Nathanaels Libido, nicht nur in der schon angesprochenen Episode, da er die Puppe Olimpia zerbricht, sondern auch in der Turmszene, in der er Nathanael und Clara, das wiedervereinigte Paar, entzweit. Als \"libidohemmendes\" Element aber nimmt er die Stelle des \"bösen\", des gefürchteten Vaters ein, von dem die Kastration zu gewahren ist. Nathanaels leiblicher Vater dagegen bittet die Augen des Kindes frei, er ist der \"positive\", der schützende Allvater. Die Vaterimago Nathanaels ist folglich in zwei Teile gespalten.

 
 

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