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geschichte artikel (Interpretation und charakterisierung)

Der begriff euthanasie im wandel der zeit



Denken Menschen an den Tod, dann wünschen sie sich in erster Linie schmerzfrei und ohne Leiden zu sterben. Dieser Wunsch ist bis in die Antike hinein belegbar. Bereits Cicero beschreibt mit dem Begriff Euthanasie einen ehrenvollen, ruhmreichen Tod und Sterben. Er versteht darunter ein schnelles Sterben ohne Qualen, wie er es für Kaiser Augustus beschreibt. Euthanasie meint in der Antike immer den natürlichen Tod oder den Tod im Kampf.
Im Mittelalter fehlt der Begriff Euthanasie, da hier der Tod als Sünde verstanden wurde und von daher nicht "gut" sein konnte.

Das Christentum lehnte schon in seinen Anfängen jegliche Form von Selbsttötung ab. Da nach christlicher Vorstellung Gott jeden Menschen individuell geschaffen hatte, stand es Gott allein zu, dieses von ihm geschaffene Leben zu beenden. Selbsttötung galt deshalb als anmaßender Eingriff in die göttliche Schöpfung. Hinzu kam die Vorstellung, daß nichts zwischen Himmel und Erde geschehe, das nicht mit dem Willen des allmächtigen Gottes entsprungen sei. Also waren auch die Schmerzen der Kranken und Sterbenden gottgewollt und mußten von den Gläubigen geduldig ertragen werden.

Als das Christentum im 4.Jahrhundert zur Staatsreligion des Römischen Reiches avancierte, wurde die Selbsttötung als Selbstmord gebrandmarkt, dem Selbstmörder das christliche Begräbnis verweigert, Grundbesitz und Vermögen des Opfers von den staatlichen Behörden konfisziert.
Das Verbot der Selbsttötung wirkte sich natürlich auch auf das Verhalten der Ärzte aus, denen jegliche Sterbehilfe untersagt war.

Die Intoleranz erreichte im 13. Jahrhundert mit Thomas von Aquin ihren Höhepunkt. In seiner "Summa theologica" entwickelte er eine Synthese philosophischer und theologischer Argumente gegen die Selbsttötung. Selbstmord war in seiner Sicht nicht nur ein Verstoß gegen das fünfte Gebot, er war vielmehr die folgenschwerste Sünde, weil der Sünder sich damit die Möglichkeit der Reue nahm. Sich das Leben zu nehmen, war ein Verstoß gegen das Naturgesetz, gegen das Gebot der Nächstenliebe, war eine Mißachtung der göttlichen Allmacht. Kurzum, im Verlauf von 12 Jahrhunderten war der Selbstmord zu schwersten christlichen Todsünde geworden.
War es für Griechen und Römer noch wichtig gewesen, bei klarem Verstand würdig zu sterben, weil die Art des Todes auch etwas über die Qualität des zu Ende gehenden Lebens aussagte, so hatten solche Überlegungen für die Christen keinerlei Bedeutung. Als Anhänger einer verfolgten Minderheit hatten sie ihre Leiden schon frühzeitig durch paradiesische Jenseitsvorstellungen zu kompensieren gelernt. Auch das qualvollste Sterben war für sie nur ein Teil jenes irdischen Jammertals, für das sie Gott im Jenseits entschädigen würde. Diese Glaubensvorstellungen prägten das Kirchenrecht und schließlich die staatliche Gesetzgebung: Wer die Todsünde des Selbstmordes beging, mußte wie ein Schwerverbrecher behandelt werden.

Francis Bacon (16. Jahrhundert) greift den Begriff der Sterbehilfe erstmals wieder auf und unterscheidet zwischen euthanasia interior und euthanasia exterior. Unter dem ersten versteht er eine spirituell-geistige Vorbereitung und Einübung auf das Sterben und den Tod. Die euthanasia exterior dagegen war die Aufgabe des Arztes: Er sollte den Kranken leichter und schmerzloser aus dem Leben scheiden lassen. Euthanasie meint bei Bacon nicht mehr nur die Art des Sterbens, sondern sie wird zu einem aktiven Geschehen, das für den Betroffenen so leicht wie möglich gestaltet werden soll. Euthanasie wird bei Bacon das erste Mal im Sinne von Sterbebegleitung verstanden.

Gewiss wurde zu allen Zeiten auch über die direkte Tötung Kranker und Leidender gesprochen und diskutiert, doch meinte Euthanasie bis zum Ende des 19. Jahrhundert immer Sterbebegleitung ohne direkte oder indirekte Lebensverkürzung. Sie war von daher nicht dem Tätigkeitsbereich des Arztes zugeordnet, sondern gehörte zur Krankenpflege und Seelsorge.
Der entscheidende Wortbedeutungswandel tritt mit der Veröffentlichung der programmatischen Schrift von A. Jost "Das Recht auf den eigenen Tod" (Göttingen 1895) ein. Jost verlangt in ihm die gesetzliche Freigabe für Tötung auf Verlangen bei unheilbar Kranken und bei Geistesgestörten. Euthanasie wird hier als aktive Tötung verstanden, als gutes Sterben, da die Kranken ja vom Leiden erlöst werden. Diese Bedeutungsvariante ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Veränderungen der damaligen Zeit.

Durch die Industrialisierung wurde das soziale Gefüge der Menschen tiefgehend erschüttert. Das heißt, daß sozial Schwache oder problematische Personen in eigenen Institutionen untergebracht wurden: Die Waisen in Waisenhäusern, die Geistesgestörten in Nervenkliniken, die Alten in Altersheime und so weiter. Aus Armut, die es immer gegeben hat und auf die jeder eine eigene Antwort finden mußte, entstand die gesellschaftliche relevante Folge, die da heißt: Was machen wir mit den industriell unbrauchbaren Menschen, wozu sind sie da und wie viel Geld wollen wir für sie ausgeben?

Diese am Rand der Gesellschaft stehende Menschengruppe wurde im 19. Jahrhundert auch Gegenstand medizinischer Untersuchungen. Warum ließen sich diese Außenseiter nicht integrieren? Man vermutete die Schädigung zuerst im Gehirn, dann in den Genen. So wurden die für die Industrie unbrauchbaren Menschen als Hirnkranke, dann aber vor allem als Erbkranke bezeichnet, ohne daß diese Behauptung beweisbar wäre. 1892 wurden sie aus eugenischen Gründen zwangsterilisiert. Damit war die Vision von der Machbarkeit des leidensfreien Menschen geboren. Der damals berühmte Sozialpsychiater und Sozialreformer August Forel dazu:
"Wir bezwecken keineswegs eine neue menschliche Rasse, einen Übermenschen, zu schaffen, sondern nur die defekten Untermenschen allmählich zu entfernen, das heißt durch willkürliche Sterilität die Träger schlechter Keime zu beseitigen und dafür bessere, sozialere, gesündere und glücklichere Menschen zu einer größeren Vermehrung zu veranlassen."
In dieser Tradition steht also Jost, der noch einen Schritt weitergeht. Seiner Auffassung nach kann der Wert eines menschlichen Lebens auf Null sinken. Ja es kann sogar in den Minusbereich absinken. In diesem Fall ist der Nullwert eines raschen schmerzlosen Todes dem Negativwert eines Lebens in Leiden vorzuziehen. Hier steht erstmals der Wert eines menschlichen Lebens zur Diskussion. Wie aber lässt sich der Wert eines Menschenlebens definieren? Diese Frage wird bis heute in der Euthanasiedebatte immer wieder gestellt.

Jost beantwortet sie wie folgt:
"Der Wert eines Menschen bestimmt sich aus der Differenz von Freude und Schmerz, die sein Leben für ihn selbst und aus der Abwägung von Nutzen und Schaden, die es für die Gesellschaft darstellt."
Daraus ergibt sich, dass es für lebensunwertes Leben, dessen gesellschaftlicher Wert unter Null sinkt, einen "Abflusskanal" geben muss.

An diesen geschichtlichen Fakten lässt sich eine weitere Beobachtung anschließen:
Es gibt eine Dynamik des Denkens, die ausgehend von der Tötung auf Verlangen bei aussichtslos Erkrankten am Ende ihres Lebens immer mehr leidvolle Situationen eines Lebens mitbedenkt, bis eine Tötung auch ohne Verlangen sinnvoll scheinen kann.
Nach dem ersten Weltkrieg fanden die bis dahin wenig beachteten Gedanken Josts vermehrt Anhänger. Zahlreiche Kriegsinvaliden, die das ohnehin geringe Sozialbudget belasteten, machten dieses Gedankengut einer Abwägung im oben dargestellten Sinne attraktiv. 1920 erschien ein Buch von dem Juristen Binding und von dem Mediziner Hoche mit dem Titel "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, ihr Maß und ihre Form". Dieses Buch kann als Wegbereiter für das entsprechende nationalsozialistische Gedankengut verstanden werden.
1929 sagte Hitler auf dem Nürnberger Parteitag:
"Würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen und 700.000 bis 800.000 der Schwächsten beseitigen, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein. Das Gefährliche ist, dass wir selbst den natürlichen Ausleseprozess abschneiden (durch Pflege der Kranken und Schwachen). Der klarste Rassenstaat der Geschichte, Sparta, hat diese Rassengesetze planmäßig durchgeführt."
Dieses Zitat weist bereits auf die später durchgeführte Aktion "Gnadentod" hin: Die breit angelegte Euthanasieaktion begann mit Zwangssterilisation und Zwangsabtreibungen und gipfelte dann in der planmäßigen Vernichtung behinderter Menschen als Euthanasieaktion T4 (benannt nach der streng geheimen Organisationszentrale der Aktion in Berlin) . Im Laufe dieser Aktion wurden erwiesenermaßen 70.273 Menschen, vermutlich sogar bis zu 120.000 Menschen, die entweder alt oder behindert waren, getötet. In den Schubladen der Machthaber lagen noch weitere Pläne zur Masseneuthanasie, die man jedoch noch nicht umzusetzen wagte. Die Aktion T4 wurde dann aufgrund von Protesten der Angehörigen und der Öffentlichkeit auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu beobachten, wie diese Ermordung auf eine für die Gesellschaft akzeptable Weise verkauft wurde. Man sprach immer nur von einem "Gnadentod", der aus Mitleid mit den armen am Lebensende stehenden Menschen gewährt wurde. Falsches Mitleid ist auch heute noch ein nicht zu unterschätzendes Motiv der Euthanasiedebatte.

Die Motive während der nationalsozialistischen Diktatur hemmten lange Zeit in Deutschland und Österreich die Diskussion und die Initiativen zur Euthanasie beträchtlich. Als common sense in der Nachkriegszeit galt:
"Sterbehilfe unter Einschluß lebensverkürzender Maßnahmen ja, direkte Euthanasie nein, unter keinen Umständen aber die Qualifizierung menschlichen Lebens als wert und unwert."
Erst in den 70-er Jahren, als auch das Thema Abtreibung viel diskutiert wurde, faßten Euthanasiebestrebungen wieder Fuß. Wortführer waren die Ärztin Postma van Bovel und der Arzt Julius Hackethal. Sie sprachen sich für ärztlich assistierten Selbstmord bei alten Menschen und unheilbar kranken Menschen aus, für die der Tod eine Erlösung sein sollte. Heute werden Schwerstbehinderte und schwerbehinderte Kinder in die Überlegung mit einbezogen.

 
 

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