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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Dramatische reflexion über geschichte


1. Drama
2. Liebe



Schon zu Beginn des Dramas erfährt Danton den Prozeß der Revolution als einen fremdbestimmten Vollzug, der unausweichlich das eigene Leben als Opfer fordert. Für den Aktivisten der bürgerlichen Revolution fielen einst der Sinn des eigenen Daseins und der Sinn des revolutionären Geschehens noch unproblematisch zusammen. Noch seine Reden vor dem Revolutionstribunal reklamieren vergeblich das Recht des Namens, den Anspruch der historischen Persönlichkeit. Als Opfer der Revolution verliert Danton eine Identität, die sich ausschließlich aus dem politischen Handeln im öffentlichen Raum speiste. Der subjektive Anspruch des Individuums geht im objektiven Sinn der Revolution nicht länger auf. Der Sinnverlust erfaßt nicht nur die Gegenwart, die die Einsicht in die historische Notwendigkeit des eigenen Todes fordert.

     Mit Hilfe der Theatermetapher reflektiert Danton vielmehr die prinzipielle Heteronomie geschichtlichen Handelns. Als groß erscheint das historische Individuum in dem Maße, wie es als Werkzeug einem fremden Gesetz der Geschichte unterworfen ist. Historische Größe ist also nicht länger ein Attribut der Person, sie entspringt einer zufälligen Übereinstimmung mit dem Bedürfnis einer eigenmächtig erscheinenden Geschichte. Wenn das politische Handeln im gechichtlichen Raum subjektiver Bestimmbarkeit entzogen ist, wird die Geschichtsmächtigkeit des Subjekts radikal in Frage gestellt. Die aus der Einsicht in die Aporien politischen Handelns resultierende Handlungsverweigerung setzt Danton frei für eine radikale Reflexion über Geschichte; er sucht nach einer Vermittlung von subjektivem Anspruch und objektivem Sinn, der in der Geschichte Gestalt gewinnt. Diese Suche aber ist identisch mit einem Prozeß der Desillusionierung, der alle verfügbaren Legitimationen politischen Handelns im Horizont der Geschichte restlos entwertet.

     Die geschichtliche Figur Danton war prädestiniert zum Träger des historischen Diskurses im Drama. Die dramatische Figur besaß für Büchner eine eminent wichtige strategische Bedeutung. Der Autor projizierte die im Verlauf der Winterkrise 1833/34 entstandenen Zweifel an der Möglichkeit eines sinnhaften subjektiven Eingriffs in den historischen Prozeß in die KunstFigur Danton. Die menschlichen Verhältnisse, so Büchner im März 1834 in einem Brief an Minna Jaeglé, sind einer fremden unabwendbaren Gewalt unterworfen, die jede Selbstbestimmung als vermessen und absurd erscheinen läßt: »Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.« Die Entdeckung des »gräßlichen Fatalismus der Geschichte« verdankt sich einem intensiven Studium der Geschichte der Revolution, in dessen Verlauf das bürgerlichidealistische Geschichtskonzept, das noch die Schülerreden Büchners durchgehend beherrscht, aufgegeben werden muß. Die Existenz eines von der Intention handelnder Subjekte unabhängigen historischen Verlaufs stellt das überkommene, vom jungen Büchner noch in Anspruch genommene Legitimationsmodell der bürgerlichen Geschichtsphilosophie in Frage: das große Individuum, eine idealistische Handlungstheorie, das Konzept der >Weltgeschichte< und eine Fortschrittstheorie, die auch der Französischen Revolution ihren legitimen Ort zuweist.

     Ein solches bürgerlichidealistisches Geschichtskonzept wird in Dantons Tod bezeichnenderweise von St. Just (43 ff.) und - in Ansätzen - von dem Ersten Herren in der Straßenszene (34) vertreten. Der historische Diskurs in Dantons Tod gewinnt seine Bedeutung auf drei Ebenen: 1. Er erlaubt die ästhetische Objektivation einer von Büchner selbst erfahrenen Krise historischen Denkens, jenseits des Handlungszwanges der politischen Arbeit, die der Autor auch nach dem FatalismusErlebnis verstärkt fortführt. Die dramatische Reflexion der Krise ist dabei keineswegs identisch mit ihrer Aufhebung; der existentielle Grundzug der DantonFigur, die im Drama trotz ihrer politischen Borniertheit nicht denunziert wird, mag hierin eine Erklärung finden.

     2. Die selbstkritische Revision der eigenen geschichtsphilosophischen Position wird von Büchner in eine fundamentale Kritik der bürgerlichidealistischen Geschichtsauffassung überführt. Der historische Diskurs des Dramas ist hierin dem ästhetischen, der eine Kritik der bürgerlichidealistischen Kunst betreibt, vergleichbar. 3. Ausgehend von dem unvermeidlichen Scheitern der sozialen Revolution und den unaufhebbaren Aporien politischen Handelns, sucht Büchner in Dantons Tod mit der transzendental gerichteten Reflexion über Geschichte nach der Bedingtheit menschlichen Handelns im historischen Raum. Die Entfremdung vom geschichtlichen Prozeß der bürgerlichen Revolution ist der geheime Bezugspunkt der fundamentalen Existenzkrise, die Danton im Drama durchlebt.

     Die mit der DantonFigur thematisierten philosophischen Konzepte einschließlich des Nihilismus gewinnen keine eigenständige Funktion, sie entfalten ihre Bedeutung erst auf der Ebene des historischen Diskurses. Die schon in der ersten Szene angelegte Problematisierung der ZeitKategorie, die den Anachronismus der eigenen Existenz in der Divergenz von historischer und persönlicher Zeit formuliert (8), wird zu Beginn des zweiten Aktes wieder aufgenommen. Camilles drängende Forderung: »Rasch, Danton, wir haben keine Zeit zu verlieren«, bescheidet Danton lakonisch: »Aber die Zeit verliert uns« (29). Die Langeweile und das Gefühl eines Ennui sind unverkennbar Folgen des historischen Sinnverlusts der eigenen Existenz, der die Routine alltäglicher Verrichtungen als absurd erscheinen läßt. Der pensionierte Revolutionär findet die Ruhe nicht, die ervorgeblich sucht. Aus der Bahn der Geschichte geworfen, verfällt Danton dem Zweifel an ihrem Sinn wie am Sinn der menschlichen Existenz überhaupt.

     In der Metapher des Welttheaters formuliert der resignierte Akteur die Entfremdung des Menschen vom geschichtlichen Prozeß, und die Sinnlosigkeit der Geschichte wird unvermittelt auf die individuelle Existenz übertragen: »das ist mir der Mühe zuviel, das Leben ist nicht die Arbeit wert, die man sich macht, es zu erhalten« (31). Unterstellt Danton zunächst einen anthropologischen Defekt (30) als Ursache für die katastrophale Bilanz der menschlichen Geschichte, so gelangt er in der Straßenszene zu einer grundlegenden Erweiterung der Anthropologie historischer Subjekte. »Ich wittre was in der Atmosphäre; es ist, als brüte die Sonne Unzucht aus. - Möchte man nicht drunter springen, sich die Hosen vom Leibe reißen und sich über den Hintern begatten wie die Hunde auf der Gasse?« (33.) Danton reklamiert in seinem vitalistisch anmutenden Protest die Fülle des Lebens gegen die zivilisatorische Einschränkung der menschlichen Natur. Der subjektive Faktor erscheint damit in Büchners Revolutionsstück in einer neuen, antiidealistischen Gestalt.

     Die Körperlichkeit, die Triebnatur und die Bedürfnisse des Leibes werden in die Darstellung der historischen Akteure umfassend einbezogen. Aber der Büchners Zeitgenossen irritierende sexuellobszöne Diskurs dient nicht allein der Destruktion geschichtlicher Helden, er verleiht zugleich einer Revolte der Subjektivität Ausdruck, die gegen den geschichtlichen Zwang das Recht auf die volle Entfaltung der menschlichen Natur setzt. Der Gestus des Obszönen demonstriert allerdings die spezifische Deformation einer gesellschaftlich tabuisierten Sinnlichkeit. Die Revolte bleibt eigentümlich ziellos; sie wird im »Lachen« (34) aufgehoben, das aufs neue die absurde Dimension in der gesellschaftlichen Existenz des Menschen zum Vorschein kommen läßt. Der ausdrücklich als ziellos ausgewiesene Weg Dantons (36) findet seine Entsprechung in der verzweifelt kreisenden Bewegung der geschichtlichen Reflexion, die ihn umtreibt. Der Tod als nahende Aufhebung des Hier und Jetzt der individuellen Existenz gibt der Sinnsuche des politischen Flaneurs eine zunehmend rückwärtsgewandte Tendenz.

     Neben das kollektive Gedächtnis der Geschichte tritt unfreiwillig das private Gedächtnis des politischen Individuums, das dem Erinnerungszwang im Gedächtnisschwund des Todes zu entrinnen hofft. Die private Aneignung der politischen Existenz, die bereits Dantons Monolog auf dem »freien Feld« (II,4) bestimmt, verstärkt sich noch in dem unmittelbar folgenden Gespräch mit Julie (II,5). So führt der Sinnverlust der Geschichte im Fall der Septembermorde des Jahres 1792 zu einer Verzweiflung am eigenen politischen Handeln, das jetzt im Zeichen der Schuld vor der Instanz des Gewissens aufgerufen wird. In halluzinatorischen Phantasien von dem Schrei seiner Opfer verfolgt, erfährt Danton im erträumten Ritt auf der Erdkugel den »gräßlichen Fatalismus der Geschichte«. Die in beinahe katechetischer Form vorgenommene Entschuldung Dantons endet konsequent in einer Art Notwehrlegitimation (39). Ein universaler Befehlsnotstand bestimmt das Verhältnis des Menschen gegenüber dem »ehernen Gesetz« der Geschichte.

     Der Mensch ist das blinde Werkzeug einer historischen Notwendigkeit, die ihm in Form von Handlungszwängen fremd und fordernd entgegentritt. Mit seiner negativen Reflexion über das »Muß« der Geschichte formuliert Danton deutlich die Antithese zu der von St. Just vertretenen idealistischen Geschichtsphilosophie, die den historischen Prozeß als eine fortschreitende Realisierung der Vernunft begreift. Diese Antithese erschöpft sich indessen in einer einfachen Negation, die die Geschichte selbst einer zunehmend nihilistischen Verzweiflung preisgibt. Die nihilistische Dimension gewinnt im Verlauf des Dramas zunehmend an Bedeutung; sie bleibt jedoch bis zum Schluß auf den negativen historischen Diskurs bezogen. Das Nichts artikuliert noch immer das Bedürfnis nach einer Verdrängung der eigenen Geschichte (vgl.

     III,7). Die Hoffnung auf eine vollständige Vernichtung des Ich wird durch eine materialistische Interpretation des organischen Todes widerlegt. Die Ruhe im Tod als dem Übergang ins Nichts bleibt daher ein unerfüllbarer Wunsch: »Da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere, organisiertere Fäulnis, das ist der ganze Unterschied!« (61.) Auch die »Phrasen für die Nachwelt« (72) und die verbliebenen Masken der politischen Existenz geben den Todeskandidaten keinerlei Halt. Selbst die Religion als Versuch einer transzendenten Auflösung der irdischen Verzweiflung an der Geschichte versagt (72 f.).

     Die Fragen der Dantonisten nach dem Sinn ihres Opfers, nach dem Zusammenhang ihrer individuellen Existenz mit dem historischen Prozeß der Revolution, bleiben ohne Antwort. »Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott« (73). Der Nihilismus ist der konsequente Schlußstein der historischen Reflexion Dantons, der jede Sinngebung für die Geschichte und die gesellschaftliche Existenz der Menschen versagt bleibt. Die Vermittlung von subjektivem Anspruch und objektivem Sinn scheitert, sowohl im Hinblick auf die Revolution wie auf die Geschichte überhaupt. Der historische Diskurs endet radikal negativ.

     Dem Tod, der eine letzte Konvergenz von historischem Prozeß und individueller Existenz erzwingt, fehlt jeder einsehbare objektive Sinn. Die Geschichtsreflexion bleibt nicht nur auf der Ebene des avancierten Figurenbewußtseins (Danton) negativ; das Stück selbst verweigert jede Form ästhetischer Versöhnung. Das Drama verharrt in der Negation des idealistischen Geschichtskonzepts, das die soziale Identität des Bildungsbürgertums im 19. Jahrhundert noch entschieden geprägt hat. Geschichte erscheint in Dantons Tod als eine transzendentale, auf die Bedingungen politischen Handelns gerichtete Reflexionskategorie. Ein neues, etwa materialistisch fundiertes Geschichtskonzept kommt nicht in Sicht.

     Das Drama negiert das bildungsbürgerliche Geschichtskonzept auch durch seine Form. Als Geschichtsdrama ist es negativ auf die zeitgenössisch vorherrschenden Muster der Gattung bezogen. Die große Mehrzahl der historischen Dramen zwischen Restauration und Märzrevolution sucht unermüdlich die Unvernunft der geschichtlichen Empirie zu überlisten, indem sie - durchaus in der Absicht, die politische Gegenwart vernünftig zu reformieren - im historischen Stoff den »Gang der Weltvernunft zu ihrem Endziel« proklamiert. Dantons Tod ist in erster Linie ein Drama der politischen Existenz. Im historischen Diskurs ergänzt Büchner die politische Ideologiekritik um eine Kritik der bürgerlichidealistischen Geschichtsauffassung, die das politische Handeln der bürgerlichen Revolutionäre im Horizont einer temporalisierten Vernunft und Fortschrittskonzeption zu rechtfertigen versucht. An dem Scheitern der Vermittlung von Geschichte und Subjektivität wird unnachgiebig festgehalten.

     Vor allem widersteht Büchner der Versuchung, der beklagten Negativität des historischen Denkens eine philosophische Krone aufzusetzen. Die philosophische Reflexion in Dantons Tod mündet gerade nicht in ein System mit pessimistischer oder gar nihilistischer Tendenz. Seine fordernde Aktualität behält Büchners Werk gerade wegen seiner konsequenten Verweigerung von Geltungsansprüchen eines abstrakten philosophischen Allgemeinen, gegen das radikal die Rechte einer Subjektivität jenseits der bürgerlichen Konzeption des großen historischen Individuums ins Feld geführt werden. Neben dem politischen Realismus hat wohl die für Büchner charakteristische uneingeschränkte Verteidigung der Lebenswelt gegenüber allen abstrakt formulierten Imperativen des politischsozialen und des kulturellen Systems am wenigsten ihre Bedeutung eingebüßt. Im übrigen hält das im Mikrokosmos von Dantons politischer Existenz entwickelte negative Geschichtsverständnis bereits Momente der modernen Erfahrung einer Auflösung von >Geschichte< fest; die Intentionalität handelnder Subjekte ist für die moderne Geschichtsreflexion längst nicht mehr unproblematisch mit dem Funktionszusammenhang historischer Prozesse zu vermitteln.

 
 



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