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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Dieter schrey - e.t.a. hoffmann der goldne topf -


1. Drama
2. Liebe

auf der Himmelsleiter - ganz unten und ganz oben
"Ich meine, daß die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, so daß jeder nachzusteigen vermag. Befindet er sich dann immer höher und höher hinaufgeklettert, in einem fantastischen Zauberreich, so wird er glauben, dies Reich gehöre auch noch in sein Leben hinein, und sei eigentlich der wunderbar herrlichste Teil desselben.\" (E.T.A. Hoffmann, Die Serapionsbrüder, 3. Band)
Vorüberlegungen
\"Zauberhafte Leichtigkeit\" bescheinigte dem \"Goldnen Topf\" sein erster Rezensent - das scheint nicht zu E.T.A. Hoffmanns Ruf als \"Gespensterhoffmann\" zu passen, mit dem er in die Geschichte der Weltliteratur eingegangen ist. Von 1830 an haben nicht die Deutschen, sondern die Franzosen, dann die Engländer und Amerikaner \"das Hoffmanneske\" für eine adäquate Darstellung der Wirklichkeit als einer vordergründig normal-bürgerlichen und hintergründig dämonisch-zerstörerischen gehalten. Eine solche Wirklichkeitssicht spiegelt sich - auf den ersten Blick - eher in der abgründigen Phantastik der Erzählung "Der Sandmann\" als im Schicksal des Anselmus im \"Goldnen Topf\", dem es - zumindest für das Empfinden eines heutigen Lesers - wohl allzu leicht gemacht wird, in Atlantis die \"Seligkeit\" zu gewinnen, von der im letzten Satz des Märchens die Rede ist. Aber auch der \"Goldne Topf\" ist keine Idylle, entwirft keine Utopie. Zwar soll der Leser die \"Himmelsleiter\" des Märchens, von der im Rahmendialog der \"Serapionsbrüder\" die Rede ist, möglichst hoch hinauf klettern - aber genauso tief wird dann sein Fall sein, der ihn auf der letzten Seite des Märchens zusammen mit dem Erzähler plötzlich erwartet. Allerdings kümmert sich nicht jeder Leser auf der letzten Seite des Buchs noch um den Erzähler, wenn er sich vorher mit der Hauptperson fest identifiziert und sie zum Schluß gar im Paradies besucht hat!
Ein adäquates Verständnis des \"Goldnen Topfs\" ist wohl nur möglich, wenn zweierlei genau beachtet wird:
. zum einen der kunstvolle Umgang des Erzählers mit dem Leser, die Erzählkommunikation: Die Begegnung zwischen Erzähler und Leser findet im Rahmen der Handlung statt, auf einer eigenständig etablierten Realitätsebene, und zwar als immer wieder unternommener Versuch des Erzählers, mit dem Leser in einen Dialog zu treten. Um die Ich-Du-Achse \"fiktiver Erzähler - fiktiver Leser\", die auf den außerhalb des Textes existierenden individuellen Autor E.T.A. Hoffmann und auf den genauso individuell verstandenen Leser verweist, dreht sich, wie zu zeigen ist, die gesamte Anselmus-Handlung.
. Zum anderen hängt ein adäquates Verständnis des "Goldnen Topfs\" von der in sich scheinbar widersprüchlichen doppelten Grundbewegung ab, die das Werk - wie andere von E.T.A. Hoffmann - kennzeichnet und von der der Autor wußte, wie er 1814 in einem Brief an seinen Verleger Kunz schreibt, daß er damit literarisches Neuland betrat: nämlich das \"kecke\" Überschreiten des Textes einmal hinein in die außertextliche Realität von Dresden 1813/14, in das \"gewöhnliche Leben\" dort, und auf der anderen Seite hinein in das \"ganz Fabulose\" mit \"tieferer\" Bedeutung, in die als wahr behauptete, ja, wahrhaftig erschaute Realität des Mythos (Brief vom 4. März 1814 an den Verleger Kunz in Bamberg, in: E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel, hg. v. Fr. Schnapp, 3 Bde, München 1967-69, Bd. 1, S. 445 ff.).
Nun ist die eine dieser beiden Realitäten, die des Alltags von 1813/14, auf sehr unterschiedliche Weise im Text präsent: Die Welt des deutschen Bürgertums zwischen Französischer Revolution und Wiener Kongreß: seine Rationalität ohne politische Perspektive, seine öde Normalität, sein Gewinn- und Karrierestreben - all das macht den Boden der Handlung aus, auf dem die \"Himmelsleiter\" des Märchens sich erhebt. Die zeitgeschichtliche Realität der sog. Befreiungskriege, Hoffmanns unmittelbare Konfrontation mit dem Phänomen \"Napoleon\" in den Tagen der Konzipierung des \"Goldnen Topfs\", seine ambivalente Faszination durch diesen \"Dämon\", wie er ihn in mehreren Texten nennt - diese sehr konkrete Realität scheint im \"Goldnen Topf\" völlig ausgeblendet zu sein (wenn man nicht die Gestalten und Ereignisse auf der mythischen Ebene auch allegorisch deutet). Dennoch, trotz der direkten Ausblendung, sind gerade die Kriegswirren in und um Dresden der unmittelbare \"Hebel\" (ein Terminus Hoffmanns), der das Märchen in Gang setzt. \"In keiner als in dieser düstern verhängnißvollen Zeit, wo man seine Existenz von Tage zu Tage fristet und ihrer froh wird, hat mich das Schreiben so angesprochen - es ist, als schlösse ich mir ein Reich auf, das [...] mich dem Drange des Äußern entrückte\" - schreibt Hoffmann an Kunz am 19. August 1813 (a.a.O. S. 407 ff.). Mitten im chaotischen Dresden, unmittelbar nach der Schlacht bei Dresden, Napoleons letztem Sieg, steigt Hoffmann auf der \"Himmelsleiter\" des Märchens weit nach oben, die Angst während der verheerenden Kanonade auf die Stadt und das Grauen des von ihm selber besichtigten und detailliert beschriebenen Schlachtfelds und der Nervenfieber-Epidemie weit unter sich lassend. Später, in den \"Serapions-Brüdern\", spricht er von dem \"Entsetzlichen, was sich in der alltäglichen Welt begibt\", von der "Grausamkeit der Menschen\", dem "Elend, was große und kleine Tyrannen schonungslos mit dem teuflischen Hohn der Hölle schaffen\". - Unmittelbar vor dem \"Goldnen Topf\", während der Kanonade, hat Hoffmann den Dialog \"Der Dichter und der Komponist\" geschrieben, den er im genauen Gegensatz zum \"Goldnen Topf\" in den ganz konkreten Ereignisrahmen dieser Tage einbaut.
Zur Alltagsrealität von 1813/14, die Hoffmann im "Goldnen Topf\" ins Werk setzt, gehören außerdem Elemente seiner eigenen Lebensgeschichte. Die Anspielungen auf seine unsterbliche und unglückselige Liebe zu Julia Marc in Bamberg, deren Wunden im ersten Jahr nach dem als katastrophal erlebten Ende der Beziehung (1812) noch lange nicht verheilt sind, werden unter der Oberfläche des Textes versteckt, sind aber auf jeder Seite anwesend (s.u.). Hier geht es - ich gebrauche einmal den dramatischen Ausdruck - um Hoffmanns \"Herzblut\", um das, was für ihn am tiefsten Wahrheit enthält (s.u.). Ulrich Stadler spricht in diesem Zusammenhang von der \"Trauerarbeit\" des Autors (Brigitte Feldges/Ulrich Stadler, E.T.A. Hoffmann. Epoche - Werk - Wirkung, München [Beck\'s Elementarbücher] 1986, S.73).
Der Ebene der bürgerlichen Welt steht in der Handlung des \"Goldnen Topfs\" - wie gesagt - die Ebene der Realität des Mythos direkt gegenüber. Der \"Goldne Topf\" - das ist Spiel und Spannung zwischen den beiden Polen des \"gewöhnlichen Lebens\" und des \"ganz Fabulosen\". Während in den frühromantischen Kunstmärchen das \"Fabulose\" allein den Märchencharakter ausmacht, in das das \"Gewöhnliche\" völlig hineinpotenziert ist, liegt das \"mythische Reich\", von dem Hoffmann immer wieder spricht, einerseits der alltäglichen Wirklichkeit \"viel näher\", \"als du sonst wohl meintest\", günstiger Leser (so steht\'s in der 4. Vigilie), aber die beiden Bereiche sind andererseits auch unüberbrückbar getrennt. Hoffmanns Auffassung von der Welt der Phantasie/des Mythos ist geprägt durch seine (nicht unbedingt philosophisch reflektierte) Auseinandersetzung mit der romantischen Naturphilosopie, die er aus G.H. Schuberts \"Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften\" (1808) kannte und mit deren Basis-Mythos er sich wie viele andere Zeitgenossen identifizierte (vgl. S. 82 - 85 in P.-W. Wührl, E.T.A. Hoffmann "Der goldne Topf\". Erläuterungen und Dokumente, Reclam 8157). Dieser Basis-Mythos ist nicht mehr wie in der Frühromantik die Geschichte der glücklichen Rückkehr zum Ursprung, sondern die vom nie ans Ziel kommenden Flug des Phönix aus der Asche, aus der Asche, die vom ausgebrannten Lilienfeuer des Phosphorus oder Salamander übrig geblieben ist.
Der gleiche Mythos liegt den beiden Erzählungen zu Grunde, die kurz vor dem "Goldnen Topf\" in Dresden entstanden sind und die zur vergleichenden Lektüre herangezogen werden können: In den beiden Erzählungen \"Der Dichter und der Komponist\" und \"Der Magnetiseur\" wird deutlich, wie der gleiche Mythos, den die Leser/-innen in der 3. und 8. Vigilie des "Goldnen Topfs\" kennenlernen können, einmal vom nationalistischen Denken der Zeit (in \"Der Dichter und der Komponist\"), das andere Mal vom Prinzip des Willens zur Macht (in \"Der Magnetiseur\") usurpiert werden kann. E.T.A. Hoffmann probiert die unterschiedlichen Haltungen aus, ohne sich mit ihnen zu identifizieren. In einer anderen Erzählung aus dem Jahr 1815 (\"Der Dey von Elba in Paris\", in: E.T.A. Hoffmann Sämtliche Werke, hg. v. R. Frank, München/Leipzig 1924, Bd. 8, S. 478 ff.) hat er seine politische Haltung im Zeitalter Napoleons charakterisiert, indem er in der Beschreibung einer anonym auftauchenden Person ein Porträt entwirft, das sich durch den Kontext wohl als Selbstporträt verstehen läßt: \"Dieser Mann mit ängstlich fragender Miene\" - so wird gesagt - das \"ist einer von den kränkelnden Charakterlosen, die auf dem wogenden Meere der politischen Welt von jedem Lüftchen hin und her getrieben werden. Er hofft, er verzweifelt, er ist beruhigt, erschrocken, voller Freude, voller Angst, er jubelt, er heult, alles in wenigen Momenten. Eigentlich ist es auch nur sein zartes Selbst, das er immer gefährdet glaubt, sonst könnte es gehen wie es wollte!\" Dieser Hoffmann der Jahre 1813 bis 1815 ist nicht unpolitisch, im Gegenteil, er beobachtet genau und interessiert, er empfindet genau, nur hat er keine konstante Perspektive, keinen Standpunkt, dem er sich anvertrauen könnte. In Napoleon, den Hoffmann 1813 in Dresden aus nächster Nähe beobachten konnte, haben sich die Zeitgenossen des Jahrzehnts zwischen 1805 und 1815 zum ersten Mal mit dem modernen Prinzip der sich (unabhängig von göttlicher Vollmacht) verabsolutierenden Macht auseinanderzusetzen, mit der Macht eines Einzelnen und eines gleich gestimmten Kollektivs (einer Nation), gleichzeitig aber mit dem gewaltigen Aufbäumen aller eigentlich überholten politischen Kräfte und Mächte. Auszuhalten ist die Ambivalenz zweier sich widersprechender Empfindungen, der Faszination durch Napoleon als den Erben der Revolution, den salamandrischen Elementargeist, den \"Weltgeist zu Pferde\", wie Hegel sagt, und der völligen Ablehnung dieses Machtmenschen, der wie Salamander im \"Goldnen Topf\" alles verwüstet hinterläßt. Auszuhalten ist der Widerspruch zwischen der Sehnsucht nach Ruhe und Frieden durch die alten Mächte und dem Wissen, daß der Gegendämon zum phosphorisch-salamandrischen Prinzip, das ancien régime, nur eine alte Vettel ist. (es erscheint möglich, den Geist-Phosphorus-Salamander-Mythos der 3. und 8. Vigilie und den Äpfelweib-Mythos so konkret politisch zu deuten). Da gibt es, angesichts der Ambivalenz auf beiden politischen Seiten, keinen dritten Standpunkt, keinen erkennbaren Sinn, kein Ziel der Geschichte mehr. Der Zukunftshorizont öffnet sich ins Unabsehbare, und schon der Weg in diese Richtung scheint völlig verstellt. Die Alternative ist an den Frühromantikern orientiert: nach innen geht der geheimnisvolle Weg - aber mittlerweile ist klar geworden, daß auch da machtgierige Dämonen hausen können. Das macht das Grundgefühl dieser Jahre aus, jedenfalls für den, der nicht der trügerischen nationalen Begeisterung der sog. Befreiungskriege folgt oder, wie mancher Romantiker, in einer transpersonalen väterlichen oder mütterlichen Instanz aufgeht - in Volk, Staat oder Kirche.

 
 

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